Der Märtyrertod der Heiligen Ursula auf einem Bild aus dem 15. Jahrhundert
Köln war von der Mitte des 11. Jahrhunderts bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts mit etwa 40.000 Einwohnern die wichtigste und größte Metropole im Deutschen Reich. Und wenn wir heute vom „Hillije Kölle“ sprechen, war das zu dieser Zeit sogar verbrieft: Ab dem 12. Jahrhundert war Köln „Sancta Colonia Dei Gratia Romanae Ecclesiae Fidelis Filia“, also „Heiliges Köln von Gottes Gnaden, der römischen Kirche getreue Tochter“.
Die Romanischen Kirchen waren Anziehungspunkt für Pilger aus aller Welt. Und so wie wir uns heute an schönen Urlaubsorten T-Shirts oder Kühlschrankmagnete kaufen, wollte auch jeder dieser Pilger im Mittelalter ein Andenken mit nach Hause nehmen. Im Idealfall sogar etwas „Heiliges“. Da boten sich Reliquien geradezu an.
Eine Reliquie ist ein irdischer Überrest eines Heiligen. In der Regel ein Körperteil wie ein Knochen, manchmal aber auch ein Gegenstand, mit dem der Heilige in Berührung gekommen ist. Wenn es sich bei dieser Reliquie um Körperteile handelt, sind diese naturgegeben endlich: Auch ein Heiliger hat nur einen Schädel, zwei Beine und zehn Finger. Wenn aber nun alle einen Teil des Heiligen haben wollen, wird es schwierig. Die clevere kölsche Lösung für dieses Problem ist die wundersame Vermehrung verehrungswürdiger Knochen durch die Geschichte der Heiligen Ursula.
Legende der Heiligen Ursula belebt das Geschäft mit Reliquien
Die Heilige Ursula hatte gleich 11.000 Gefährtinnen, die direkt mitverehrt wurden. Und so waren auf einmal 11.000 Schädel, 22.000 Beine und 220.000 Finger und Zehen als Reliquien verfügbar. Sehr praktisch, auch wenn die Kirche das Geschäft mit den Reliquien verboten hatte. Aber der findige Kölner findet auch dafür eine Lösung: Verkauft wurden daher nicht die Reliquien selber, sondern die hübschen Kisten und Schachteln drumherum. Und dass halt die Reliquie darin liegt – jood, dat es halt esu.
Ob es Ursula jemals gegeben hat, kann nicht belegt werden. Der Legende nach war Ursula eine bretonische Prinzessin im 4. Jahrhundert und schon als Kind so extrem fromm, dass sie ihr Leben Christus geweiht hatte und auf ewig Jungfrau bleiben wollte. Diese Pläne wurden durch ihren Vater durchkreuzt: Dieser verlobte Ursula mit dem englischen Prinzen Aetherius. Kleiner Haken: Aetherius war ein ungetaufter Barbar – für die fromme Ursula ein absolutes No-Go. Daher stellte sie drei Bedingungen:
Sie erhält eine Frist von drei Jahren bis zur Eheschließung.
Aetherius muss sich während dieser Zeit taufen lassen.
Ursula unternimmt mit 11.000 Gefährtinnen eine Wallfahrt nach Rom.
Aetherius stimmt zu. Es werden Schiffe gebaut, und die Jungfrauen machen sich auf den gefährlichen Weg nach Rom. Es geht von der Bretagne quer über die Nordsee in die Rheinmündung und dann flussaufwärts zunächst bis nach Köln. Hier hat Ursula eine Vision: Ein Engel verkündet ihr, dass sie nach ihrem Besuch in Rom wieder zurück nach Köln kommen wird um dort als Märtyrerin zu sterben. Für ein frommes Mädchen wie Ursula anscheinend eine verlockende Aussicht, denn sie ergibt sich ihrem Schicksal.
Von Köln aus geht es weiter bis nach Basel und von dort aus zu Fuß quer über die Alpen nach Rom. Jetzt gibt es zwei Varianten der Legende: In der einen war zwischenzeitlich auch Aetherius in Rom angekommen. Seine Taufe und die Segnung von Ursula und der 11.000 Jungfrauen wurde von keinem geringerem als Papst Siricius (in manchen Quellen auch als Cyriacus bezeichnet) vorgenommen. In der anderen Variante treffen sich Ursula und der frischgetaufte Aetherius erst in Mainz. Wie auch immer: Völlig begeistert von der frommen Reisegesellschaft schließt sich der Papst den Jungfrauen an, denn er hatte erfahren, dass das Martyrium bevorstand und so etwas lässt man sich als Papst nicht entgehen.
Die Prophezeiung erfüllt sich
Wieder in Köln angekommen, stellt die um den Papst und Aetherius sowie etliche weitere Interessierte angewachsene Reisegesellschaft fest, dass die Hunnen die Stadt belagern. Diese fackeln nicht lange und metzeln die ganze Gefolgschaft nieder – insgesamt 10.998 Jungfrauen. Die Heilige Cordula überlebte das Massaker, weil sie sich verstecken konnte. Allerdings wird sie später von den Hunnen gefunden und ebenfalls getötet. Auch Ursula überlebt zunächst, weil der König der Hunnen sich in sie verliebt. Er bietet ihr an, sie zu verschonen, wenn sie ihn heiratet. Eine für Ursula aus gleich zwei Gründen unmögliche Option: Erstens wäre ja auch dieser Gemahl ein ungetaufter Barbar und zweitens muss sich ja mit ihrem Tod die Prophezeiung des Engels erfüllen. Folglich lehnt sie ab und der Hunnenkönig tötet sie.
Kaum war Ursula tot, erschienen 11.000 kampfeslustige Engel und vertrieben die Hunnen aus der Stadt – die Belagerung war beendet. Als Dankeschön für diese Befreiung machten die Kölner Ursula zu einer ihrer Stadtpatroninnen und die ganze Geschichte rund um Ursula zu einem sensationellen Geschäft mit Reliquien.
Im Teil II der Ursula-Geschichte wird erklärt, wie es die findigen Kölner geschafft haben, tatsächlich Unmengen an echten Knochen heranzuschaffen, um diese an die Pilger zu verkaufen.
Die Läsche Nas, Bild: Bild: rs-bierdeckel.de, Reinhold Schäfer
Es muss ein unvorstellbarer Gestank gewesen: Auf der Aachener Straße, kurz vor Melaten, konnten die Menschen zeitweise nur mit einem Tuch vor der Nase am Haus von Andreas Leonard Lersch, genannt „Läsche Nas“, vorbeigehen. Selbst auf dem Friedhof herrschte noch ein unvorstellbarer Gestank.
Quelle allen Übels war der Ofen von Läsche Näs. Dort kochte der berühmt-berüchtigte städtische Hundefänger zuvor eingefangene und getötete Hunde aus. Das so produzierte Fett verkaufte er in seinem Laden mit dem hochtrabenden Namen „Diätisches Mineralwarengeschäft und Kurheilanstalt“ als probates Mittel zur Schwindsucht. Ironie der Geschichte: Ausgerechnet an dieser Krankheit verstarb Läsche Nas etwa zehn Jahre später. Vorher aber musste er sein Gewerbe wegen der massiven Geruchsbelästigung der Trauernden und der Besucher auf Melaten noch nach Ehrenfeld in die Nußbaumer Straße verlegen. Anscheinend war dort der Gestank eher geduldet.
Von der Bühne über den Deutsch-Französischen-Krieg zur Polizei
Als Andreas Leonard Lersch am 8. Januar 1840 geboren wurde, lag die Karriere als städtischer Hundefänger noch in weiter Ferne. Nach einer Lehre als Metzger zog es ihn im Alter von 19 Jahren auf die Theaterbühne. Der Mann mit der unübersehbar großen Nase wurde zu dieser Zeit bereits „Läsche Nas“ genannt, und die Theatermacher spekulierten darauf, den überdimensionierten Riechkolben zur Marke zu machen. Vielleicht wäre ja sogar ein großer Schauspieler aus ihm geworden. Doch die Einberufung zum Militär und die Schmähungen der Kritiker, die sich auf seine große Nase bezogen, beendeten die hoffnungsvolle Theaterkarriere bevor diese richtig starten konnte.
Nach dem Deutsch-Französischen-Krieg (1870–1871) kehrte Lersch zurück nach Köln. Seine militärische Erfahrung ebnete ihm den Weg zur Polizei. Doch auch hier stand ihm seine große Nase im Weg: Lersch sollte als verdeckter Ermittler für die Polizei arbeiten. Doch wie kommt man unerkannt an die Spitzbuben ran, wenn ein riesengroßes Riechorgan trotz aller denkbaren Verkleidungen unverwechselbar ist? Außerdem ging er wohl nicht gerade zimperlich mit Festgenommenen um. Folglich war auch dieses berufliche Kapitel schnell beendet. Als Läsche Nas seinen Dienst bei der Polizei quittierte, protokollierten die Beamten die Rückgabe folgender Gegenstände: „Zwei sechsläufige Revolver, Dolchmesser, Schlagring, Bleistock und Gummischlauch.“1Quelle: Reinhold Louis: „Kölner Originale“, Greven-Verlag
Es folgte ein kurzes Intermezzo als Wächter für die Bahn bis Lersch eine neue Aufgabe fand: Er wurde städtischer Bezirksabdecker. Es herrschten grauenvolle Zustände in der Domstadt: Die Kadaver verendeter Tiere wurden auf den Wiesen entlang des Rheins einfach vergraben. Und jedes Hochwasser spülte regelmäßig das Erdreich weg, und die halbverwesten Tiere wurden wieder freigelegt. Den Auftrag der Stadt, stattdessen ein geeignetes Gebäude für eine professionellere Tierkörperverwertung zu finden, konnte Lersch nicht erfüllen.
Wenig zimperliche Methoden als Hundefänger
Mehr Erfolg hatte er mit seiner zweiten Tätigkeit als städtischer Hundefänger. Unendlich viele Streuner verunreinigten die Stadt und brachten die Gefahr der Tollwut mit. Ab 1878 ist Andreas Leonard Lersch ausgerüstet mit Netz und einem vergitterten Karren unterwegs, um im Auftrag der Stadt Hunde einzufangen. Dabei fing er wohl – neben den Streunern, die keiner vermisste – auch manchen Haushund ein. Und dann war das Geschrei groß. Glücklich waren die Hundebesitzer, die noch rechtzeitig ihren Hund gegen ein ordentliches Trinkgeld auslösen konnten.
Läsche Nas war wenig feinfühlig mit den eingefangenen Hunden. Alle kamen in einen einzigen Käfig. Gerade die kleinen Hunde überlebten die gemeinsame Gefangenschaft mit größeren Tieren eher selten. Aber auch für die überlebenden Hunde war das Ende nah: Lersch brauchte deren ausgekochtes Fett für sein Wundermittel.
Sein rabiater Umgang mit den Tieren war stadtbekannt. Kinder verscheuchten die Streuner, wenn Läsche Nas mit seinem quietschendem Karren ankam, und auch die Erwachsenen waren mit den brutalen Methoden nicht einverstanden. Lersch trat daher regelmäßig mit zwei Polizisten auf, die ihn bei seiner Arbeit schützten. Aber zumindest die Stadt war zufrieden mit Lerschs Arbeit und übertrug ihm 1885 zusätzlich auch noch das Amt des Scharfrichters, welches er aber nie ausübte.
Mit großem Eifer energisch den Dienst versorgen
Schon zu Lebzeiten wurde Läsche Nas öfters für tot gehalten. Daran war er auch selbst schuld: Bereits zu Lebzeiten hatte er sich einen Sarg anfertigen lassen und alle Bedingungen seiner Beerdigung inklusive der Kleidung seiner Leiche festgelegt.
Am 3. Mai 1887 verstarb Läsche Nas – ausgerechnet an Schwindsucht, gegen die doch sein eigenes Mittel so vortrefflich helfen sollte. In seinem Totenzettel war zu lesen „… In ihm verliert die Stadt einen tüchtigen Beamten, welcher stets bemüht war, mit großem Eifer energisch seinen Dienst zu versorgen …“.
Wie auch immer: Die Hunde in der Stadt werden sich gefreut haben.
Der Nasenbrunnen zu Ehren des fleißigen städtischen Hundefängers Andreas Leonard Lersch, besser bekannt als „Läsche Nas“, Bild: Horsch, Willy – HOWI, CC BY 3.0
Es passiert eher selten, dass Beamte von der Stadt ein eigenes Denkmal bekommen. Anders bei Läsche Nas: Vor dem Bezirksrathaus Ehrenfeld an der Venloer Straße steht der Nasenbrunnen zur Erinnerung an den eifrigen Beamten. Der Brunnen besteht aus zehn übereinanderliegenden Ringen mit zehn unterschiedlichen Nasen: Große, kleine, runde oder lange Nasen.
Tief im kollektiven Gedächtnis der Stadt verankert: Die „Kölschen Originale“
Weitere Geschichten zu den „Kölschen Originalen“ gibt es hier:
In dem Lied „Fastelovend im Himmel“ erinnert Karl Berbuer unter anderem auch an Andreas Leonard Lersch. Dort lautet es:
Un et Arnöldche fleut, un dr Herrjott hät sing Freud, un der Läsche Nas ehr Nas wed nass, weil Kölle nit unger geiht.
Berbuer spielt mit dieser Zeile darauf an, dass selbst, wenn Läsche Nas unter einem Regenschirm stehen sollte, die riesengroße Nase trotzdem nass wird.
Sobald der Name „Wilhelm Riphahn“ fällt, winkt der Kölsche gleich ab: „Nä – dat is doch dä mit der Oper. Vell ze dür.“ Dass sein Name mit dem Kosten-Desaster der Opernsanierung verbunden ist, wird Riphahn nicht gerecht. Und wenn er das wüsste, würde er sich in seinem Grab auf Melaten umdrehen. Tatsächlich gibt es wohl keinen zweiten Architekten, der so viele Spuren in Köln hinterlassen hat wie Wilhelm Riphahn.
Er hat nicht nur die Bastei am Rheinufer oder den Neubau der Mülheimer Brücke nach dem Krieg, sondern auch zahlreiche Wohnsiedlungen wie die „Weiße Stadt“ oder den „Blauen Hof“ in Buchforst, konzipiert. Außerdem hat Riphahn stilbildende Gebäude wie den UFA-Palast, das Britische Kulturinstitut „Die Brücke“ oder das Gebäude der WiSo-Fakultät der Universität gebaut. Und auch das heute so umstrittene Ensemble aus Oper und Schauspielhaus.
Sproß einer Architektenfamilie
Wilhelm Riphahn wurde am 25. Juli 1889 in eine Kölner Bauunternehmer- und Architektenfamilie geboren. So ist es kaum verwunderlich, dass er an der Kölner Baugewerkschule studierte und dann bei namhaften Architekten in Berlin, Dresden und München erste Praxiserfahrungen machte.
Das Bootshaus des Ruderclub „Germania“, Poller Wiesen, Bild: Cekay, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons
1913 kam er nach Köln zurück und eröffnete im Alter von 24 Jahren sein eigenes Architekturbüro. Erste Projekte waren das von ihm entworfene Bootshaus des Ruderclub „Germania“ an den Poller Wiesen (1914) und das Wohn- und Geschäftshaus „Justinianstraße 1“ als Entreé für die Deutzer Freiheit (1914).
Im Jahr 1914 heiratete Riphahn Paula Schuhmacher, die 1919 im Alter von nur 30 Jahren verstarb und den Witwer mit seinen zwei Kindern zurücklies. Ada Friedmann (1890-1962) wurde 1922 seine zweite Ehefrau.
„Lich, Luff und Bäumcher“
Nach dem Ersten Weltkrieg verschreibt sich Riphahn konsequent dem Bauhaus-Stil und wurde der „Haus- und Hofarchitekt“ der 1913 gegründeten Gemeinnützigen Aktiengesellschaft für Wohnungsbau (GAG). So entstanden 1922 die Wohnsiedlung in Bickendorf, 1927 – 1930 die „Siedlung Zollstock“ und 1927 – 1932 die Vorzeige-Siedlungen „Weiße Stadt“ und „Blauer Hof“ in Buchforst.
Die Siedlung „Weiße Stadt“ in Köln-Buchforst, Bild: Grkauls, Public domain, via Wikimedia Commons
Der Wohnungsbau erfährt in dieser Zeit durch Riphahn eine grundlegende Modernisierung: Nach dem Motto „Lich, Luff und Bäumcher“ konzipierte Riphahn klare Formen und großzügige Weitläufigkeit mit großen, begrünten Innenhöfen.
Auch hier zeigt sich die praktische Seite seiner Architektur: Um den Muff trocknender Wäsche aus den Wohnungen zu verbannen, waren diese Innenhöfe mit Wäscheleinen zum Wäschetrocknen versehen.
Die Wohnsiedlung „Blauer Hof“ mit großem, begrünten Innenhof. Bild: Rolf Heinrich (Köln), CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons
Typisch für die Wohnbauten von Riphahn waren auch die großen Wohnküchen, die auch heute wieder sehr beliebt sind. Dass Balkone und eigene Bäder nicht länger Luxus waren, sondern zum Standard wurden, ist ebenfalls diesem Visionär zu verdanken. Die von Riphahn entworfenen Wohnsiedlungen haben bis heute nichts von ihrer Modernität verloren.
Riphahn selber beschreibt 1928 die Aufgabe des Architekten wie folgt:
„Wir sind Kinder unserer Zeit, die in viel stärkerem Maße sozial fühlt und denkt als irgendeine vergangene. Es ist daher Aufgabe des Architekten, mit ganzer Strenge den Bedürfnissen, die die heutigen Lebensbedingungen mit sich bringen, gerecht zu werden und dabei künstlerisch das zu leisten, was möglich ist. Massenbedürfnis, Not der Zeit und Gemeinschaftsgedanke führen zum Kollektivbau, der seinerseits wieder den zweckmäßig und liebevoll durchgearbeiteten Typ verlangt.“
Die Bastei: “Mit der Landschaft, dem Strom und den Brücken vermählt“
1931 entsteht in nur fünf Monaten der UFA-Palast. Dieser Riphahn-Bau war mit 3.000 Sitzplätzen nicht nur das größte Kino in Westdeutschland, sondern auch eines der spektakulärsten Bauwerke in Köln.
“Mit der Landschaft, dem Strom und den Brücken vermählt“ – die Bastei am Rheinufer. Ein ähnliches Bild hatte Wilhelm Riphahn zeitlebens in der Brieftasche, Bild: Raimond Spekking
Ein weiteres Meisterstück von Riphahn ist das Restaurant „Bastei“ am Rheinufer. Dieses in der Entstehungszeit umstrittene Bauwerk begeisterte nach der Fertigstellung die Bürger und auch die Fachwelt. Der Architekturkritiker Heinrich de Fries meinte 1926, dass sich die Bastei „mit der Landschaft, dem Strom und den Brücken vermähle, fast völlig befreit scheinbar von der Basis, aus der es doch entwachsen ist.“
Andere Menschen haben ein Bild ihrer Kinder in der Brieftasche, bei Riphahn war das anders: Bis zu seinem Tod hatte er immer ein Foto der Bastei dabei.
Schwierige Zeit im Nationalsozialismus
Riphahn verweigerte sich der Ideologie der Nationalsozialisten. Seine zweite Frau Ada Friedmann war jüdischer Abstammung. Seiner Tochter verbot er ausdrücklich, in den Bund Deutscher Mädel (BDM) einzutreten.
Daher wurde er von den braunen Machthabern bei Auftragserteilung öffentlicher Bauten nicht mehr berücksichtigt. Nur durch eine Intervention des Kölner Architekten Clemens Klotz, einer Größe im nationalsozialistischen Deutschland, konnte er einen GAG-Auftrag für eine Wohnsiedlung in Lindenthal erhalten. Seine wirtschaftliche Existenz sicherten ihm aber private Bauherren. 1939 reiste er in die USA und überlegte, ob er auswandern sollte. Schlussendlich kam er aber zurück nach Köln.
Schutz vor dem Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs findet Riphahn zusammen mit seiner Familie in Engelskirchen. Schnell ist ihm klar, dass er wesentlich zum Wiederaufbau beitragen kann. Seine These: „Köln wird wieder entstehen, ja es wird sich, wenn auch in später Zukunft, zur großen Metropole Westeuropas entwickeln“.
Als freier Architekt wird Riphahn Berater der „Kölner Wiederaufbaugesellschaft“. Der Visionär setzt sich für einen durchgrünten und durchlüfteten Straßenraum ein und setzt dabei wesentliche Akzente in Köln. Beim Wiederaufbau der Hahnenstraße konzipiert er prägende Bauten wie die Kunstgalerie Moeller und das britische Kulturinstitut „Die Brücke“ (1950).
Pünktlich zum Karnevalsbeginn am 11. November 1948 werden die von ihm geplanten Sartory-Säle fertig, 1953 das Institut Français am Sachsenring und 1959 als erster Erweiterungsbau der Kölner Universität das WiSo-Gebäude. Auch der Neubau der Mülheimer Brücke stammt aus seinem Büro.
Die Oper: Der „Aida-Bunker“
Mit dem Wiederaufbau wurden die Stimmen immer lauter, Kulturbauten in der Innenstadt rund um den Dom zu konzentrieren. Der Standort des alten Opernhauses am Rudolfplatz (heute steht dort das Steigenberger Hotel) erschien daher eher ungeeignet. Mit dieser Idee setzte sich Riphahn in einem Architekturwettbewerb durch und ergriff die Gelegenheit, mit dem Ensemble aus Oper und Schauspielhaus sowie weiterer umliegenden Bauten einen ganzen innerstädtischen Bereich mit seinen Planungen zu prägen.
Die Oper im Jahr 2010 – vor der aufwändigen Sanierung, Bild: Raimond Spekking
1957 wurde die neue Oper am Offenbachplatz eingeweiht. Bis 1963 folgten das Schauspielhauses und die Opernterrassen. Wolfgang Schmidtlein war als Architekt bei Wilhelm Riphahn angestellt und wesentlich in die Gestaltung der Oper eingebunden. Das für das Opernhaus ein ägyptischer Tempel Pate stand, weist er in einem Interview in das Reich der Legende.
Die Oper im Jahr 2017, mit fast fertiggestellter Außensanierung. Gut zu erkennen: Die Balkone, Bild: Raimond Spekking
Tatsächlich gab es praktische und ästhetische Gründe für den Bau. Senkrechte Türme, so Schmidtlein, hätten diesen Teil der Innenstadt gestalterisch erschlagen. Und für die Betrieb der Oper waren unterschiedliche Raumtiefen erforderlich. So entstanden die bekannten Schrägen. Und auch die Balkone sind aus einer praktischen Erwägung entstanden. Da die Werkstätten viel Licht benötigen und eine schräge Verglasung extrem teuer gewesen wäre, die zudem die Räume extrem aufgehitzt hätte, entschied man sich für die Balkone. So konnten Kosten gespart werden.
Viele Kölner konnte das Gebäude bis heute nicht überzeugen. „Hässlich, wie ein Hotel auf Mallorca“, so eine Meinung. Auch als „Aida-Bunker“ oder „Grabmal des unbekannten Intendanten“ wurde die Oper bezeichnet.
Die höhenmäßig versetzten Balkons in der Kölner Oper mit frontalem Blick auf die Bühne, Bild: Bundesarchiv, B 145 Bild-F004427-0001 / Teubner / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 DE, via Wikimedia Commons
Seit Juni 2012 läuft die umstrittene Sanierung der Oper – eines der bislang teuersten Kulturprojekte in Deutschland. Die Gesamtsumme (inkl. Finanzierungskosten und Betrieb von Ausweichspielstätten) beträgt mittlerweile rund und eine Milliarde Euro. Als Fertigstellungstermin wurde der 22. März 2024 genannt.
Bescheiden und kein Mann der großen Worte
Wilhelm Riphahn hat diese Irrungen und Wirrungen über sein Bauwerk nicht mehr erlebt. Er starb nicht lange nach der Eröffnung des Schauspielhauses am 27. Dezember 1963. Sein Grab ist auf Melaten.
Dieser Architekt hat Köln maßgeblich geprägt. Und war gleichzeitig bescheiden und eher wortkarg. Als er 1931 zu einer Rede bei der Eröffnung des UFA-Palasts gedrängt wurde, bestand diese aus den Worten
„Ich kann über meinen Kram nichts sagen, seht ihn euch selber an.“
DANKE an Joachim Brokmeier
Ein großes DANKE an Joachim Brokmeier für eine wertvolle Ergänzung zu diesem Artikel. Der Stadtteilhistoriker betreibt die lesenswerte Website „Riehler Geschichten“.
Durchaus beeindruckend: Reinhold Fellenberg in der Parade-Uniform der Deutzer Kürassiere, Bild: Dietrich Jung: Der Trompeter von Köln – Reinhold Fellenberg, ein Godesberger Mitbürger. In: Godesberger Heimatblätter: Jahresheft des Vereins für Heimatpflege und Heimatgeschichte Bad Godesberg e.V.
Kein Aufmarsch der stolzen Roten Funken ohne diese Erkennungsmelodie: Wenn „Ritsch, ratsch, die Botz kapott“ erklingt wissen alle, dass die Kölsche Funke rut-wieß vun 1823 e.V. da sind
1890 erklang dieser Marsch zum ersten Mal – und gleich zwei Komponisten haben ihren Anteil an dem Erfolg. Der Marsch beginnt mit „Jitz röck an, dat staatse Funkeheer“, komponiert von einem gewissen „Jodocus Fleutebein“. Dies war der Funken-Spitznamen1Spitznamen bei den Roten Funken sind eine alte Tradition. Jeder Funk bekommt seinen Spitznamen bei der Vereidigung verliehen. von Professor Hermann Kipper. Den zweiten Teil „Ritsch, ratsch, de Botz kapott!“ steuerte der Rote Funk mit dem Spitznamen „Pommery“2Jetzt dürfte jedem klar, sein, was sein Lieblingsgetränk war. Reinhold Fellenberg bei.
Der Trompeter von Köln
„Pommery“ Reinhold Fellenberg hat über 100 Karnevalslieder verfasst, darunter viele Märsche wie zum Beispiel „Kölle bliev Kölle“ (1895) oder den „Petersberger Zahnradbahn-Marsch“ (1906).
Werbeanzeige aus den „Kölner Nachrichten“ vom 23. Januar 1890 zu den Noten des „Kölner Damen-Marsch“ von Reinhold Fellenberg, welcher „mit stürmischen Beifalle aufgenommen wurde“
Fellenberg war einer der ersten Komponisten, die speziell Lieder für den Karneval schrieben und brachte – ähnlich wie später Marie-Luise Nikuta – jedes Jahr ein neues Lied heraus.
Weit weg vom kölschen Karneval geboren
Geboren wurde Reinhold Fellenberg am 20. Juni 1848 in Freystadt (Niederschlesien, heute Kożuchów, Polen) – mehr als 600 Kilometer entfernt vom kölschen Karneval. Sein Onkel erkannte früh das musikalische Talent des Jungen und förderte ihn. So trat Fellenberg bereits im Alter von 15 Jahren als Solist in Berlin und Sankt Petersburg auf. Im Alter von 18 Jahren begann sein Militärdienst, vier Jahre später nahm er als Solo-Flügelhornist mit einer Militärkapelle am Deutsch-Französischen Krieg (1870/71) teil. Nach Stationen in Münster und Gleiwitz kam er 1888 nach Köln.
Dort wurde er Kapellmeister der „Deutzer Kürassiere“, die damals bekannteste Blaskapelle in Köln. Mit diesem 25 Mann starken Ensemble war er nicht nur in seinem Regiment „Graf Gessler“ tätig sondern auch im Kölner Karneval. Man war regelmäßiger Gast auf Karnevalsveranstaltungen und nahm auch am Rosenmontagszug teil.
Der Kölner Karneval wurde Berufung und Leidenschaft des begabten Trompeters und Komponisten Fellenberg. Schon im Jahr 1889 veröffentlichte er den Marsch „Je toller, je besser“, dem mindestens jährlich ein weiteres Karnevalslied oder ein Marsch folgen sollten.
Die Kölner dankten ihm und nannten ihn Fellenberg noch den „Trompeter von Köln“ – ein Ehrentitel, den er gerne annahm und auch passend dazu ein gleichnamiges Stück komponierte, sowie später einen Schriftzug an seiner Villa in Godesberg anbrachte.
Die Villa von Reinhold Fellenberg in Godesberg mit dem Schriftzug „Der Trompeter von Cöln“. Bild: Dietrich Jung: Der Trompeter von Köln – Reinhold Fellenberg, ein Godesberger Mitbürger. In: Godesberger Heimatblätter: Jahresheft des Vereins für Heimatpflege und Heimatgeschichte Bad Godesberg e.V.
Eine echte Militärgestalt, beliebt und geachtet
Am 31. Oktober 1906 wurde Reinhold „Pommery“ Fellenberg mit einem großen Abschiedskonzert im Kölner Stapelhaus verabschiedet. Er zog in ein großes, repräsentatives Haus in Godesberg und trat nur noch gelegentlich als Solotrompeter auf.
Am 6. Juli 1912 verstarb der Musiker. Der Kölner Local-Anzeiger vom 9. Juli 1912 widmete ihm folgende Nachruf:
„Reinhold Fellenberg, der langjährige Stabstrompeter des Deutzer Kürassier Regiments, der weit und breit unter dem Titel „Der Trompeter von Köln“ bekannt war, ist gestern in Godesberg im Alter von 64 Jahren gestorben. Der Verstorbene, eine echte Militärgestalt, war in den weitesten Kreisen beliebt und geachtet. Über 40 Jahre hat er des Königs Rock getragen und von 1888 an das Deutzer Trompetenchor bis zum Jahre 1906 geleitet. Unter Fellenberg hat dieses Trompeterkorps einen weit über Köln und die Rheinprovinz hinausragenden guten Ruf erhalten.“
Nachruf auf Reinhold Fellenberg aus der „Kölnische Zeitung“ vom 8. Juli 1912
Heute in Vergessenheit geraten – prominenter Urenkel
Weitaus bekannter als Reinhold Fellenberg sollte sein Urenkel werden: Der Musiker und Komponist Toni Steingass (1921 – 1987).
Die Märsche und Lieder von Fellenberg werden heute nicht mehr gespielt und sind Vergessenheit geraten. Allerdings ist sein „Galoppmarsch“ fester Bestandteil im Repertoire der Kapelle der Household Cavalry und wird bis heute gelegentlich noch beim Wachwechsel am Buckingham Palace in London gespielt.
„Pommery“ Fellenberg hat aber mit „Ritsch, ratsch, die Botz kapott“ ein Werk für die Ewigkeit erschaffen. Ich nehme jede Wette an, dass die Roten Funken damit auch noch in 200 Jahren die Bühnen erobern werden.
Verschiedene Kapellen pflegen weiterhin die Tradition der Bläserensembles im Karneval. Eine der renommiertesten Ensembles sind die Kölner Ratsbläser. Schon im Jahr 1954 gegründet, gehören die Ratsbläser fest zum Kölner Karneval.
Wenn diese Truppe in ihren traditionellen Kostümen mit Blechhelmen loslegt, nimmt der satte Klang alle mit. Die etwa 25 Musiker bringen jeden Saal zum Kochen. Und auch bei offiziellen Anlässen wie bei der Prinzenproklamation oder der Eröffnung des Rosenmontagszuges spielen die Ratsbläser die Eröffnungsfanfare.
Figur von Katharina Henot auf dem Rathausturm. Deutlich zu erkennen: Die Flammen des Scheiterhaufens. Sie ist in guter Gesellschaft: Die Figur neben ihr ist Friedrich Spee von Langenfeld, ein Kritiker der Hexenprozesse, Bild: Raimond Spekking / CC BY-SA 4.0 (via Wikimedia Commons)
Die sogenante „Hexenverfolgung“ ist ein trauriges Kapitel. Es gibt keine sichere Angabe zu den Opfern, manche Quellen gehen von bis zu 60.000 Toten aus. Darunter waren auch Männer, allerdings fanden überwiegend Frauen als vermeintliche „Hexen“ den Tod. So auch die Kölnerin Katharina Henot (oder auch Henoth, je nach Quelle), die am 19. Mai 1627 ermordet wurde.
Neid auf das lukrative Postmeister-Amt
Katharinas Vater Jacob Henot hatte seit 1579 das hochangesehene Amt des kaiserlichen Postmeisters in Köln inne. Doch seine Bestrebungen, Generalpostmeister zu werden, riefen die Neider aus dem Haus Taxis auf den Plan und führten zu 20 Jahren voller Streit um das lukrative Amt. Faktisch führten Katharina und ihr Bruder Hartger die Post-Geschäfte.
Als ihr Vater im Jahr 1625 im damals unglaublich hohen Alter von 94 Jahren starb, hielten die Geschwister den Tode des Familienoberhaupts zunächst geheim, um nicht die Geschäfte zu gefährden. Der Schwindel flog auf – und die Familie Henot verlor in einem Prozess das Recht auf die Postmeisterei an die Fürsten von Taxis.
Katharina wird der „Peinlichen Befragung“ unterworfen
Zeitgleich kamen in Köln Gerüchte auf, Katharina sei eine Hexe. Beweise waren z. B. eine Raupenplage in einem Kölner Kloster. Die Beschuldigte strengte daraufhin einen Prozess zum Beweis ihrer Unschuld an. Doch die Vorwürfe gegen Katharina häuften sich, sie wurde unter anderem wegen Schadenzaubers, Verbreitung von Zank und „Unzucht mit adeligen Herren“ angeklagt.
Daher wurde sie im Januar 1627 festgenommen und der „Peinlichen Befragung“ unterzogen. Die „Peinliche Befragung“ wurde bei Inquisitionsprozessen eingesetzt. Der Begriff ist von Pein abgeleitet bedeutet deswegen schmerzhaft. Tatsächlich handelt es sich um Folter mit dem Ziel, ein Geständnis zu erhalten. Der Einsatz der Folter wurde zur damaligen Zeit als durchaus legitim angesehen.1Leider wird auch heute noch von finsteren Regimen rund um den Erdball gefoltert. Danke an Thomas für diese Ergänzung.
So könnte auch die „Peinliche Befragung“ Katharina Henots ausgesehen haben, Bild: Jan Luyken (1649 – 1712), Public domain, via Wikimedia Commons
Insgesamt wurde die vermeintliche Hexe drei Mal gefoltert. Doch Katharina blieb standhaft und verweigerte ein Geständnis ihrer Hexerei. Eigentlich hätte der Prozess hier enden müssen, denn nach den damals gültigen Gesetzen hätte sie nach der dritten Folter ohne Geständnis freigelassen werden müssen. Trotzdem wurde sie zum Tode verurteilt.
Auf Melaten hingerichtet
Am 19. Mai 1627 wurde das Urteil auf Melaten vollstreckt. Der Scharfrichter erwürgte die von der Folter stark gezeichnete Katharina Henot, ihr Leichnam wurde verbrannt. Dieser Mord war der Auftakt zu einer ganzen Serie von Hexenprozessen im „Hillige Kölle“. Bis 1630 wurden mindestens 24 weitere Frauen als Hexen ermordet.
Es sollte aber noch mehr als 380 Jahre bis zur Rehabilitation der vermeintlichen Hexen dauern. Erst im Februar 2012 beschloss der Rat der Stadt Köln, auf Antrag der Nachfahren von Katharina Henot, die Rehabilitierung von insgesamt 38 Frauen, die im Zuge der Hexenprozesse verurteilt worden waren.
Heute trägt eine Straße in Ehrenfeld und eine Schule in Kalk ihren Namen. Das Historische Archiv begründet die Namensgebung der Schule wie folgt (Auszug): „Ihre Persönlichkeit lässt mit Selbstbewusstsein, Gerechtigkeitssinn und Standhaftigkeit Eigenschaften erkennen, denen heute der Stellenwert von demokratischen Tugenden zugemessen wird.“
Die Bläck Fööss haben ihr mit dem Lied „Katharina Henot“ ein musikalisches Denkmal gesetzt. Den Text gibt es auf der Website der Föös.
Josef Kardinal Frings (1887 – 1978), hier eine Aufnahme aus dem Jahr 1959, Bild: City archives Kerpen, CC BY 4.0
Die Kölner hatten stets ein gespaltenes Verhältnis zu ihrem jeweiligen Bischof. Eine echte Ausnahme war Joseph Kardinal Frings. Im Hungerwinter 1946/47 fehlt es in der zerstörten Stadt Köln an allem. Und der in der Bevölkerung sehr beliebte „Rheinische Kardinal“ Frings steht Silvester 1946 auf der Kanzel der Kirche St. Engelbert in Riehl und predigt:
„Wir leben in Zeiten, da in der Not auch der Einzelne das wird nehmen dürfen, was er zur Erhaltung seines Lebens und seiner Gesundheit notwendig hat, wenn er es auf andere Weise, durch seine Arbeit oder Bitten, nicht erlangen kann“.
Im Klartext: Die Kirche erlaubt von höchster Stelle aus den Diebstahl von überlebensnotwendigen Dingen.
Die handschriftliche Vorlage der berühmten Silvesterpredigt 1946 vom Kölner Erzbischof Josef Kardinal Frings, Bild: Erzbistum Köln
„fringsen“ geht in den Wortschaft ein
Und die Kölner nehmen ihren Bischof beim Wort. Ab 1947 nimmt zum Beispiel der „Kohlenklau“ deutlich zu. Menschen klettern auf Eisenbahnwaggons und „organisieren“ sich Brennmaterial, um den bitterkalten Winter zu überleben – man geht „fringsen“. Ein Wort, welches in den Sprachgebrauch einer ganzen Region eingegangen ist.
Was übrigens gerne vergessen wird: Frings hatte auch deutlich darauf hingewiesen, dass man doch den späteren Schadensersatz nicht vergessen dürfe:
„Aber ich glaube, dass in vielen Fällen weit darüber hinausgegangen worden ist, und da gibt es nur einen Weg: unverzüglich unrechtes Gut zurückgeben, sonst gibt es keine Verzeihung bei Gott!“
Diesen Teil der Predigt überhörten die Kölner aber wohl.
Erinnerung an das „fringsen“ von Zeitzeugen
Helmut ist in Köln aufgewachsen und lebt heute in Kanada. An das „fringsen“ hat er folgende Erinnerung:
„Dat wore Klütte, die mer orjanisiert han. Do sin mer Pänz neven dem Zoch herjelaufe un han de Hevel opjeschlaje, un minge Fründ han se in de Foos jeschosse die Soldate die im letzte Wage oven hu soße. Dat wor am Bahndamm Antwerpener Stross am Grönguerdel. Un dann kom de Razzia un de han us de Klüttesack avjenomme un ne Tritt in the Fott ham och kräje, wenn de uns krigge kunte.“
Evelin ist ein echt kölsches Mädchen und lebt heute in Schweden. Auch Sie erinnert sich an daran, dass sie gefringst hat:
In der „Hungerzeit“, wie meine Eltern sagten, hab ich selbst als 7jährige „mitgefringst“, hauptsächlich als „Kohlenklau“. Die Nachbarjungen sprangen hinten auf die Lastwagen und warfen Briketts auf die Straße, wir „Kleinen“ sammelten alles auf. Anschließend wurde der Schatz brüderlich geteilt.
„Köln hat wieder einen Frings“
Thomas Frings, Geistlicher und Großneffe von Josef Kardinal Frings, wohnt seit Oktober 2017 in Köln. In meiner Reihe „Ein paar Fragen an … „ stand Thomas Frings auch bereits Rede & Antwort.
Kardinal Frings „Der Rheinische Kardinal“
Mehr über Kardinal Frings gibt es in dem lesenswerten Buch „Der Rheinische Kardinal“, von Friedhelm Ruf (J.P. Bachem Verlag, 2015, ISBN: 978-3761629512, nur noch antiquarisch erhältlich)
Wer glaubt, Intrigen, Morde und Sex an Königs- und Kaiserhöfen wären alles nur Erfindungen der Fantasy-Literatur, sollte sich unbedingt mal mit der Kölner Stadtgeschichte beschäftigen: Die Geschichte um unsere Stadtgründerin Agrippina bietet alle Zutaten für ein eigenes Epos mit Mord, Inzest und jeder Menge Intrigen.
Fakt ist, dass Agrippina – mehr oder weniger – ein kölsches Mädchen ist. Immerhin wurde sie in Köln geboren. Ihr Vater Germanicus war Heerführer der riesigen Armee, die die schmähliche Niederlage der Römer in der Varus-Schlacht rächen sollte. Just als diese Armee im Oppidum Ubiorum, dem späteren Köln, stationiert war, wurde Agrippina im Jahr 15 oder 16 n. Chr geboren. Über ihre Jugend ist nichts bekannt.
Ihr Bruder war der berüchtigte Kaiser Caligula, der Agrippina und ihre beiden Schwestern wie Göttinnen verehren lies. Doch das Glück währte nicht lange. Agrippina war in eine Verschwörung gegen ihren Bruder verstrickt und entging dem Tod nur durch die Verbannung auf die Insel Ponza im Tyrrhenischen Meer. Wie gut für Agrippina, dass Caligula selber im Jahr 41 n. Chr. ermordet wurde – so konnte sie zurück in die „upper class Gesellschaft“ Roms.
Entbrannt in völligem Verlangen nach Schreckensherrschaft
Ihr Plan, über verschiedene einflussreiche Ehemänner ihre Stellung in der römischen Gesellschaft zu festigen, ging ordentlich schief: In erster Ehe heiratete sie einen Politiker, der selber wegen Inzestes mit seiner Schwester angeklagt wurde. Aus dieser Ehe entstammt ihr einziges Kind: Lucius Domitius Ahenobarbus, besser bekannt als Nero.
Auch ihr zweiter Ehemann stand ihrem Aufstieg im Weg – er starb an einer Pilzvergiftung. Durch das (wohl durch Agrippina selbst beschleunigte) Ableben ihres zweiten Mannes war sie frei für ihre dritte Ehe: Im Alter von 33 Jahren heiratete sie den 25 Jahre älteren Kaiser Claudius. Eigens für diese Ehe wurde ein Gesetz zur Ehe zwischen Verwandten geändert, denn immerhin war Claudius ihr Onkel.
Jetzt war Agrippina fast am Ziel: Sie sorgte dafür, dass Claudius ihr den Titel einer römischen Kaiserin verlieh und gleichzeitig ihren Sohn Nero adoptierte. Um ihre Macht zu festigen, ging Agrippina über Leichen, der römische Historiker Tacitus beschrieb Agrippina als „entbrannt in völligem Verlangen nach Schreckensherrschaft“.
Köln wird zu Colonia Claudia Ara Agrippinensium
In dieser Zeit verlieh sie auch ihrem Geburtsort am Rhein den Titel einer römischen Kolonie. Colonia Claudia Ara Agrippinensium (CCAA) entstand, daraus erwuchs das heutige Köln. Sicher ist: Nur durch die Rechte einer Colonia, einer römischen Kolonie, konnte Köln wachsen und sich zu einer der wichtigsten Städte im Römischen Reich entwickeln. Die Kölner verklären diese Entscheidung gerne als Agrippinas Liebeserklärung an ihren Geburtsort. Tatsächlich wollte sie damit aber vermutlich nur ihre Geburt im „Barbarenland“ verschleiern und ihre Macht festigen – immerhin ist die Bennenung einer römischen Kolonie nach einer Frau einzigartig.
Nero, Sohn von Agrippina und Kaiser, Bild: Bibi Saint-Pol
Nero wird Kaiser und lässt seine Mutter umbringen
Doch Agrippina war noch nicht am Ziel angekommen: Sie wollte unbedingt ihren Sohn Nero auf den Kaiserthron bringen. Unglücklich war nur, dass ihr Ehemann Kaiser Claudius selber einen Sohn aus einer früheren Ehe hatte, welcher als Nachfolger vorgesehen war. Erneut sorgte ein Pilzgericht für die Lösung. Claudius starb an einer Vergiftung und Nero konnte Kaiser werden. Der römischen Gesellschaft gefiel dieses Arrangement nicht, hinter ihrem Rücken wurden Nero und seiner Mutter „inzestuöser Verkehr“ unterstellt.
Nero selber war aus ähnlichem Holz geschnitzt wie seine Mutter. Er empfand Agrippina zunehmend als Rivalin um die Macht. Zunächst verstieß er sie vom Kaiserhof, danach schlugen etliche Mordanschläge, als Unfälle getarnt, fehl und schließlich ließ Nero seine eigene Mutter 59 n. Chr. umbringen.
Da kann man feststellen: Echt schwierige Familienverhältnisse!
Die Jungfrau im Kölner Dreigestirn. Das Ornat erinnert an Agrippina, Bild: Festkomitee Kölner Karneval/Coelln Coleuer
Agrippina wird jedes Jahr auf das neue geehrt: Die Jungfrau im Kölner Dreigestirn steht für die Uneinnehmbarkeit der Stadt. Das römisch anmutende Gewand erinnert an die Stadtgründerin.
Mathilde von Mevissen als Figur auf dem Rathausturm, Bild: Raimond Spekking
„Die Frauenfrage interessiert mich! Da ich aber unglücklich war und wohl etwas unterdrückt, habe ich mir fest vorgenommen, in dieser Frage kein Wort mehr zu sagen, bis ich innerlich abgeklärt und meine Ansichten von allen persönlichen Verhältnissen frei sind. Meine Erfahrungen kann ich nützen – meine Erbitterung nicht! Ich will suchen ins Ganze zu sehen über mein erbärmliches Ich weg.“1Tagebucheintrag von Mathilde von Mevissen im Jahr 1890
Dieser Satz aus ihrer eigenen Feder fasst das Leben der Kölner Frauenrechtlerin Mathilde von Mevissen hervorragend zusammen:
Unterdrückung durch den Vater
Hunger nach Bildung
Drang nach Veränderung.
So lässt sich auch ihr Leben in drei Abschnitte unterteilen:
Teil I: Kindheit und (gescheiterte) Vorbereitung auf eine spätere Rolle als Ehefrau (1848 – 1890)
Am 30. Juli 1848 wird Mathilde von Mevissen als zweite von fünf Töchtern des Unternehmers Gustav Mevissen (1815 – 1899, ab 1884 Gustav von Mevissen) und Elise Mevissen, geb. Leiden (1822 – 1857), geboren.
Ihr Vater war ein schwerreicher Industrieller und Bänker, nach heutigen Maßstäben ein Multimillionär. Ihre Mutter verstarb bereits 1857 nach der Geburt des fünften Kindes. Gustav von Mevissen heiratete im Jahr 1860 Therese Leiden, die Schwester seiner ersten Frau. Ein damals nicht unübliches Arrangement.
Als Tochter „aus guten Hause“ im 19.Jahrhundert war Mathildes Lebensweg eindeutig vorgezeichnet: Die Ausbildung diente alleine dazu, sie auf ihre spätere Rolle als Hausfrau und Mutter vorzubereiten. Um dieses Ziel zu erreichen, wurden eigens Hauslehrer engagiert. Deren vorrangiges Ziel war die „sittliche Erziehung“ der Mädchen, um sie später gut in vornehmen Kreisen verheiraten zu können.
Dafür wurde im Hause Mevissen ein strenges Regiment geführt. Die Töchter durften ohne Begleitung das Haus nicht verlassen, die Post wurde kontrolliert und auch das, was sie lesen durften, war vorgeschrieben.
Gustav Mevissen, hier im Jahr 1848, kontrollierte streng das Leben seiner fünf Töchter. Bild: Valentin Schertle, Public domain, via Wikimedia Commons
Diese Zeit der fehlenden Bildung empfand Mathilde als Qual. Als „inhaltsleeres Dasein einer unverheirateten Frau im Großbürgertum des 19. Jahrhunderts ohne echte Aufgabe und ohne intellektuellen Anspruch“ bezeichnete die Frauenrechtlerin Helene Lange diese Phase im Leben von Mathilde von Mevissen.
Ein kleiner Lichtblick: Heimlich schlich sich Mathilde in die riesige Privatbibliothek ihres Vaters.2Diese umfasste rund 25.000 Bücher. Sie versteckte die Bücher vor dem Zugriff der Eltern und Hauslehrer und las mit Begeisterung alles, was sie finden konnte.
Das repräsentative Wohnhaus der Familie Mevissen in der Zeughausstraße. Das Gebäude ist nicht mehr erhalten, heute steht dort das Regierungspräsidium. Bild: Kunst des 19. Jahrhunderts im Rheinland. Bd. 2. Architektur: II, Profane Bauten u. Städtebau, Schwann, Düsseldorf 1980
Teil II: Aufkommendes Engagement in der Frauenfrage (ab 1890)
Nachdem immerhin drei der fünf Mevissen-Töchter in wohlhabende Kölner Familien verheiratet wurden3Nur Mathilde und ihre Schwester Melanie sollten unverheiratet bleiben.lockerte der Patriarch Gustav von Mevissen etwas die Zügel. Sie übernahm Sekretariatsaufgaben für ihn und verwaltete die große Bibliothek.
In dieser Zeit fiel auch ihr „Erweckungserlebnis“. Sie las ein Buch über die Ende des 19. Jahrhunderts aufkommende Frauenfrage. Eckart von Mevissen, ein Verwandter, beschrieb die damit ausgelöste Veränderung eindrücklich: „Ihre vielseitige Bildung, ihr Hunger nach Betätigung, nach wirklicher Leistung … ihr trostloses Dasein in den Fesseln strenger Konvenienz, all das ließ das Wort von der Befreiung der Frau wie eine Erlösung auftauchen.“
Und Mathilde wird aktiv: Sie gründet, gemeinsam mit Elisabeth von Mumm (1860 – 1933), den „Kölner Frauenfortbildungsverein“. Dies gilt als heute als Anfang der Kölner Frauenbewegung.
Ihrem Vater konnten diese Aktivitäten nicht gefallen, er warf ihr ungebührliches Verhalten vor. Aber Mathilde hatte mittlerweile das Selbstbewusstsein entwickelt, ihre Ziele auch gegen den Willen des Vaters zu verfolgen.
Teil III: Leben und Wirken nach dem Tod des Vaters (1899 – 1924)
Doch erst mit dem Tod ihrs Vaters 1899 konnte Mathilde von Mevissen endlich ihr eigenes Leben frei gestalten. Und dieses Leben widmete sie der Frauenfrage mit dem Schwerpunkt Mädchen- und Frauenbildung. Ihr Ansatz: Mädchen bzw. Frauen müssen die gleichen Bildungsvoraussetzungen geboten bekommen wie Männer. So war sie treibende Kraft des „Vereins Mädchengymnasium Köln“, welcher 1899 gegründet wurde. Dieses Gymnasium nahm aber erst nach einem von Mathilde von Mevissen beharrlich ausgeführten Kampf mit den preußischen Bildungsbehörden am 29. April 1903 den Betrieb auf.
Mitgliederverzeichnis der Mitglieder des „Vereins Mädchengymnasium zu Köln“ Mathilde von Mavissen stiftetet mit 60.000 Mark alleine 75% der Gesamtsumme
Mathilde von Mevissen setzte das vom Vater geerbte riesige Vermögen für die Frauenbildung und Frauenrechte ein. Sie richtete Stipendien speziell für junge Frauen ein und unterstützte großzügig das von ihr initiierte Mädchengymnasium.
In der Gründungsurkunde des „Vereins für Mädchenbildung“ wird deutlich, dass Sie diese Initiative fast im Alleingang finanzierte. Zwar wurden 26 Stifter und Patrone aufgeführt, doch mit einer Stiftungssumme von 60.000 Mark finanzierte Mathilde von Mevissen alleine 75% des gesamten Stiftungskapitals.
Zusätzlich unterstützte sie die bereits von ihrem Vater initiierte Handelshochschule. Diese wurde im Jahre 1919 als Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät in die neu gegründete Universität zu Köln integriert. Schon seit 1920 wurde die jährliche Gründungsfeier der Uni als „Mevissenfeier“ bezeichnet. Zum speziellen Dank wurde Mathilde von Mevissen im Jahr 1923 – anlässlich ihres 75. Geburtstags – der Titel „Ehrenbürgerin der Universität“ verliehen. Im Mai 2024 wird die Universität noch einen Schritt weitergehen und den Mathilde-von-Mevissen-Tag feiern.
Familiengrabstätte Mevissen auf dem Melaten-Friedhof. Die Gedenkplatte für Mathilde von Mevissen befindet sich auf der Kopfseite (zweite von links). Bild: Geolina163, CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons
Am 19. März 1924 stirbt Mathilde von Mevissen. Sie wird im Familiengrab auf dem Melaten-Friedhof beigesetzt. Ihr wurde eine der 124 Rathausfiguren gewidmet, und seit 2005 heißt die älteste Grundschule im Stadtteil Nippes „Mathilde-von-Mevissen-Grundschule“.
Mathilde von Mevissen hat das Leben der Frauen – nicht nur in Köln – verändert. Sie hat nachhaltig Bildungschancen für Mädchen eröffnet.
Somit hat sie ihren bereits 1890 geäußerten Wunsch „Ich will suchen ins Ganze zu sehen…“ erfüllt.
Mathilde-von-Mevissen-Promovendinnenförderung
Die TH Köln hat es sich zur Aufgabe gemacht, sich im Hinblick auf Nachwuchsförderung und Personalentwicklung zu engagieren, um der stetigen Abnahme des Frauenanteils bei den voranschreitenden Karrierestufen, zu begegnen.
Dr. Rudolf Nickenig hat ein Buch zur „Weinstadt Köln“ veröffentlicht, Bild: Nickenig
Dr. Rudolf Nickenig als Weinexeperten zu bezeichnen wäre eine glatte Untertreibung. Dieser Mann „lebt“ das Kulturgut Wein. Geboren als Sohn einer Winzerfamilie aus Boppard lernte er das Winzerhandwerk von der Pike auf.
Bevor er Referent beim Deutschen Weinbauverband wurde, studierte er Lebensmittelwissenschaft in Bonn und promovierte über „Polyphenole in Weißweinen“. Von 1986 bis 2018 war Nickenig Generalsekretär des Weinbauernverbands. Während dieser Zeit war er auch Chefredakteur der Fachzeitschrift „Der Deutsche Weinbau“. Er arbeitete in verschiedenen Europäischen Spitzenverbänden des Weinbaus, ist Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat der Deutschen Weinakademie (DWA) und Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats der Gesellschaft für Geschichte des Weines e.V.
Buch: „Köln – eine merkwürdige Weinstadt“
Rudolf Nickenig hat bereits mehrere Bücher über Wein veröffentlicht. Sein jüngstes Werk allerdings hat es in sich: „Köln – eine merkwürdige Weinstadt“ ist ein Buch über die Weinhistorie Kölns. In der Stadt mit dem (selbsternannten) besten Bier der Welt. Ein klarer Fall für den Köln-Lotsen – das muss aufgeklärt werden.
Ich treffe Rudolf Nickenig ausgerechnet in einem Brauhaus. Und wir reden dort über Wein. Klingt seltsam, aber man gewöhnt sich dran. Für den Autor übrigens kein Widerspruch, er sagt: „Heute ist Köln ohne Frage eine Biermetropole.“ Und stößt mit einem frischgezapftem Kölsch mit mir an. „Aber das war nicht immer so. Köln hat ein von Wein geprägtes Vorleben. Wetten, dass ich das nachweisen kann?“.
Ich schlage lieber nicht ein, denn ich kenne sein neues Buch. Dort geht es um genau eine solche Wette: Wilhelm, der mich ganz stark an den Weinexperten Nickenig erinnert, wettet mit seinem Freund Karl darum, dass er nachweisen kann, dass Wein in Köln eine viel wichtigere Rolle gespielt hat als bekannt.
Kölner besitzen Weinberge an der Ahr, am Mittelrhein und an der Mosel
Und dann zieht Wilhelm alle Register: Er erklärt, dass die ersten Kölner Reben von den Römer mitgebracht wurden, damit man den Wein nicht immer mühevoll importieren musste. Um den wachsenden Bedarf zu decken, bemühten sich die betuchten Kölner, in den Besitz von Weinbergen an der Ahr, am Mittelrhein und an der Mosel zu kommen. So gibt es einen schriftlichen Nachweis, dass Erzbischof Kunibert von Köln bereits im Jahr 643 Besitzer eines Weinbergs in Boppard ist.
Augenzwinkernd erläutert der fiktive Wilhelm seinem Freund, dass es in der 200jährigen Geschichte des organisierten Karnevals noch nie ein Motto zum Bier gab, aber immerhin vier Mal der Wein zum Thema wurde.
Das Buch liest sich mit seinen 3 x 11 Kapiteln genauso flüssig und leicht wie sich ein gekühlter Weißwein trinken lässt. Und wer, wie beim Wein, die ganzen Aromen genau aufspüren will, wird im umfangreichen Anhang mit Begriffserläuterungen und weiterführender Literatur fündig.
Ein paar Fragen an … Dr. Rudolf Nickenig
Herr Dr. Nickenig – die Frage aller Frage: Rot oder Weiß? Oder Rosé? Oder am Ende doch Kölsch?
„Rut un wiess wie lieb ich dich!“ Da kann ich den Bläck Fööss zustimmen. Mal bevorzuge ich einen Rotwein, mal einen Weißwein, mal einen blanc de noir.
Die Kölner früherer Jahrhunderten liebten den „Weißen Roten“ der damaligen Zeit, den Bleichert, sowohl den Ahr- als auch den Rheinbleichert.
Köln und Kölsch zusammen klingt hervorragend – Köln und Wein hingegen passt auf den ersten Blick nicht wirklich gut zusammen. Richtig?
Auf den ersten Blick kommt es einem merkwürdig vor. Es lohnt sich daher, sich mit der Weinhistorie der Stadt Köln nicht bierernst, sondern weinfröhlich zu beschäftigen.
Wie kamen Sie auf die Idee, über die Stadt mit dem (selbsternannten) besten Bier der Welt ausgerechnet ein Weinbuch zu schreiben?
Vor einigen Jahren hatte ich ein Buch über das Weinbaugebiet Mittelrhein1„Vom harten Hengst zum feurigen Riesling“, Verlag Matthias Ess , Bad Kreuznach , 2015, 19,80 Euro geschrieben. Bei den Recherchen wurde mir klar, dass der Weinbau in früherer Zeit nicht am Siebengebirge aufhörte.
Ich zweifelte auch an der Abgrenzung von Heinrich Böll: „Der Weintrinkerrhein hört ungefähr bei Bonn auf, geht dann durch eine Art Quarantäne, die bis Köln reicht; hier fängt der Schnapstrinkerrhein an; das mag für viele bedeuten, dass der Rhein hier aufhört. Mein Rhein fängt hier an,…“ Den Halbsatz will ich nicht kommentieren. Wie weit der „Weintrinkerrhein“, aber auch der „Weinerzeugerrhein“ ging, wollte ich genauer recherchieren und dieser Weg führte zur merkwürdigen Weinstadt Köln.
Die fleißigen Heinzelmännchen sorgten auch für den Wein in Köln, Detailansicht des Heinzelmännchenbrunnens, Bild: Raimond Spekking
Die Heinzelmännchen brauen kein Bier, sondern keltern Wein. Ist das der Beweis für den Kölner Weinanbau?
Wir alle kennen aus Kindertagen die merkwürdigen Aktivitäten der Kölner Heinzelmännchen. Aber Hand aufs Herz: wissen Sie noch welchen Handwerkern die Heinzelmännchen halfen?
Sie schufteten nachts für die Zimmerleute (Vers 2), die Bäcker (Vers 3), die Fleischer (Vers 4), die Schneider (Vers 6) – mit dem verheerenden Ende aufgrund der neugierigen Schneidersfrau, die die Heinzelmännchen vertrieb. Und wem halfen sie im Vers 5?
…. Die Männlein sorgten um den Wein, Und schwefelten fein Alle Fässer ein, Und rollten und hoben Mit Winden und Kloben, Und schwenkten Und senkten, Und gossen und panschten Und mengten und manschten. Und eh der Küfer noch erwacht, War schon der Wein geschönt und fein gemacht!
Überraschenderweise halfen die Heinzelmännchen in der Bierstadt Köln keinen Bierbrauern, sondern Weinküfern. Das ist kein Beweis für den Kölner Weinbau, aber ein Hinweis, dass zu Zeiten der Heinzelmännchen oder vielleicht sogar zu Zeiten des Autors August Kopisch – er schrieb das Gedicht 1838 – Wein in Köln einen höheren Stellenwert als Bier hatte!
Aber mal ganz ehrlich: Es wurde doch damals nur deswegen Wein getrunken, weil es lebensgefährlich war, das verunreinigte Wasser zu trinken.
Die Einen sagen so, die Anderen sagen so. Warum haben sie Wein und kein Bier getrunken, das ist doch die Frage.
Aber ernsthaft: Wein wurde in der frühen Neuzeit nur von den reichen Bürgern als Genussmittel betrachtet, nur sie konnten sich gute teure Weine leisten. Für die ärmeren Schichten war der Hygieneeffekt von billigen Weinen sicher wichtig.
Schon den Römern war es auf die Dauer zu lästig, das Grundnahrungsmittel Wein in Amphoren aus dem Süden einzuführen. Also selber anbauen. Aber was für eine Qualität hatten die in Köln produzierten Weine?
Um die Frage beantworten zu können, müssen wir uns auf Quellen der damaligen Zeit stützen. Wir wissen aus den Aufzeichnungen von Hermann Weinsberg (1518-1597), einem Kölner Ratsherrn, der in seinem mehrbändigen Gedenkebuch penibel sein Verhalten und seinen Konsum aufzeichnete, dass er seinen selbst angebauten Wein lieber anderen schenkte als selbst zu trinken. Das lässt tief blicken.
In der gleichen Periode, genauer gesagt im Jahr 1531, reiste der Buchhändler Johann Haselberg vom Bodensee durch Deutschland und besang in mehreren hunderten Versen Köln. Darin finden sich die Verszeilen:
„Schoen wingarten siecht ma da rings umb: Vil wins wegs zu Coelln, in einer sum O tzwey dausent fuder sues und saur Allein nur inerhalb der rinck maur.“
Süß und sauer!
Das Stapelhaus war lange Zeit ein wichtiger Umschlagsplatz für Güter, Postkarte von ca. 1900, Wizico Verlag
War es am Ende vielleicht auch das Stapelrecht, welches den Kölner Zugriff auf die besten Weine ermöglichte?
Da spricht manches dafür. Das Stapelrecht war eine Gelddruckmaschine, das dem Kölner Stadtsäckel über Jahrzehnte die höchsten Steuereinnahmen brachte. Kaufleute durften mit ihren Weinschiffen nicht an Köln vorbei fahren, ohne diese in Köln zu entladen und eine Zeit lang zum Verkauf anzubieten. Die Vorschriften sind noch viel weitgehender, im Buch sind sie skizziert.
Es ist naheliegend, dass die Kölner Patrizier mit diesem Stapelrecht-Geklüngel nicht nur ein exklusives Wissen über die Qualität der Weine, sondern auch genügend Einnahmen hatten, um sich die besten Weine leisten zu können.
Weingärten der Kartäuser, ca. 1571, Ausschnitt des Mercator – Stadtplanes
Wieviel Wein wurde tatsächlich in Köln angebaut?
Für die damalige Zeit unfassbar viel! Immerhin ein Viertel der Fläche innerhalb der mittelalterlichen Stadtmauern waren bis ins 17. Jahrhundert mit Reben bepflanzt, rund 90 Hektar, mehr als 100 Fußballplätze. Heute gibt es am Mittelrhein keinen Weinbauort mehr, der eine so große Rebfläche hat. Anfang des 19. Jahrhunderts waren es immerhin noch 65 Hektar. Mit der Intensivierung des Städtebaus war es lohnender, sein Weinbaugrundstück zu verkaufen als Wein anzubauen.
Welche „Relikte“ des Weinanbaus finde ich heute noch in Köln?
Wir haben das Buch im Kölner Weindepot/Weinmuseum vorgestellt. Die Reben auf dem Dach sind eine „merkwürdige“ Erinnerung an den historischen Kölner Weinanbau.
Bei dieser Gelegenheit traf ich auch den Kölner Stadtwinzer Thomas Eichert, der am Chlodwigplatz Qualitäten erzielt, von denen die Winzer im Mittelalter nur träumen konnten. Es gibt sicher noch mehr „Memorials“, nicht zuletzt zählen Straßennamen oder Weinkneipen dazu.
Ob im Gürzenich, Kristallsaal oder Sartory: Auf den Karnevalssitzungen herrscht „Weinzwang“. Ist das die letzte kölsche Weintradition?
Sicher nicht, denn dieser Zwang ist keine Kölner Tradition, er findet sich vielerorts. Schon im alten Knigge ist zu lesen: Zwang tötet alle edle, freiwillige Hingebung.
Könnte Köln durch den Klimawandel in Zukunft ein attraktives Weinanbaugebiet werden?
Wenn man die klimatischen Voraussetzungen für den Weinbau betrachtet: ja. Wenn man die Bodenpreise in Köln und drumherum betrachtet: eher nein. Im Buch haben Wilhelm und Karl eine futuristische Perspektive gesehen:
„Der Klimawandel wird eine völlig neue Architektur in Köln notwendig machen. Markus Wittling wird mit seinem Weinberg auf dem Dach seiner Vinothek als Pionier von Cologne Urban Viticulture in die Geschichte eingehen. Die Architekten werden Hochhäuser mit auskragenden Fassaden für das Anbringen von Pflanzen bauen, um die Wohnungen und Büros zu beschatten und um Energie zu sparen und zu gewinnen. Ganz Köln wird eine einzige Flora sein – und das Tollste ist, die Begrünungen der steilen Dächer der historischen Kirchen und der modernen Fassaden der Skyliners werden mit Reben erfolgen! Kurzum: bei der 2000-Jahrfeier Kölns im Jahr 2050 werden in Köln viel mehr Reben wachsen als zur Zeit der Stadtgründung, vielleicht sogar mehr als im Mittelalter!“
Was für eine tolle Vision!
Genau wie alle anderen Menschen in meiner Rubrik „Ein paar Fragen an …“ hat auch Dr. Rudolf Nickenig zu meinen „kölschen Fragen“ Rede und Antwort gestanden.
Wenn nicht Köln – wo sonst könntest du leben? Und warum gerade dort?
Umgekehrt. Ich könnte mir sehr gut vorstellen, in Köln zu leben, wenn ich es mir leisten könnte, ein Stadthaus mit Weinkeller und großer Dachterrasse zu erwerben, auf der ich die autochthone kölsche Rebsorte, den Blauen Kölner, anbauen würde.
Welche kölsche Eigenschaft zeichnet dich aus?
Ein merkwürdiger Respekt vor dem Kölner Grundgesetz.
Was würdest du morgen in unserer Stadt ändern?
… den Rebenanbau fördern, insbesondere die Rebsorte Blauer Kölner.
Nenne ein/zwei/drei Gründe, warum man Köln morgen verlassen sollte.
Siehe Antwort zu Frage 1. Solange ich keinen Wein in Köln anbaue, mache ich mir darüber keine bierernsten Gedanken.
Wo ist dein Lieblingsplatz in Köln?
Im Dom, um den Dom und um den Dom herum.
Welche KölnerInnen haben dich beeinflusst / beeindruckt?
Mirijam Günter, prämierte Schriftstellerin aus Köln, Bild: Dirk Fischer
Aufgewachsen in unterschiedlichen Heimen, abgebrochene Lehren als Automechanikerin, Köchin, Malerin, prämierte Autorin, wissbegierig und unangepasst. Die Kölner Schriftstellerin Mirijam Günter vereint viele Facetten.
Mit ihr unterwegs zu sein, ist eine spannende Herausforderung. Für dieses Interview haben wir uns in der Innenstadt getroffen, direkt an St. Aposteln. Wir laufen kreuz und quer durch die Stadt. Und ich, der ich sie eigentlich interviewen wollte, werde von der wissbegierigen Mirijam vieles gefragt.
Halt in der Kirche
Mirijam Günter wächst als Findelkind in verschiedenen Städten auf. Sie verbringt insgesamt 16 Jahre in verschiedenen Kinder- und Jugendheimen. Und immer gibt ihr die Kirche halt.
Für die Betreuer in den Heimen absolut unverständlich, bestand sie auf den Besuch von Gottesdiensten. Dies tat sie zunächst, um ihre Betreuer zu ärgern, denn diese mussten sie dafür oft in die weit entfernten Kirchen fahren. Aus dieser Rebellion entsteht ein „Pakt“: So schreibt sie in einem Artikel der Zeitschrift chrismon: „Im Heim schwor ich mir bei Gott, nicht unterzugehen. In meinem Kopf entstand ein Satz, der mich lange begleitete: Ihr verachtet meinen Gott, weil er der Einzige ist, der zu mir hält!“1„Ich bleibe katholisch“ Die Schriftstellerin Mirijam Günter über den einzigen Ort, an dem sie nie Rassismuss erlebte, https://chrismon.evangelisch.de/das-wort/mirijam-guenter-schriftstellerin-haelt-zur-katholischen-kirche-52438 abgerufen am 14. 10.22
Mirijam Günter ist eine erfolgreiche Schriftstellerin. Für ihren ersten Roman „Heim“ wurde sie im Jahr 2003 mit dem renommierten Oldenburger Kinder- und Jugendbuchpreis ausgezeichnet. Zwischenzeitlich sind mit „Die Ameisensiedlung“ und „Die Stadt hinter dem Dönerladen“ zwei weitere Romane erschienen.
Seit 2006 bietet sie auch „Literaturwerkstätten“ an. Dort bringt sie jungen, benachteiligten Menschen die Literatur nahe. In den Literaturwerkstätten bietet sie den jungen Menschen die Gelegenheit, sich entsprechend ihrer geistigen Möglichkeiten mit eigenen und/oder fremden Texten, Geschichten, Gedichte auszudrücken. Ruhig geht es, so Mirijam Günter, in den Werkstätten selten zu: „Denn mit dem Aufsatzschreiben und den Textanalysen fremder Texte in der Schule haben Literaturwerkstatten fast nichts gemeinsam. Das klassische formelle schulische Lernen, mit dem die genannten Zielgruppen in der Regel mehrheitlich Negativerfahrungen gesammelt haben, wird außer Kraft gesetzt.“
Mirijam Günter: Die Ameisensiedlung, dtv, 272 Seiten, ISBN: 978-3423782128
Rassismus-Erfahrungen
Im April 2020 wird Mirijam Günter fälschlich des Fahrraddiebstahls bezichtigt. Aufgrund der Aussage eines Kinds, das eine Frau „Typ Zigeuner“ beobachtet haben will, wird Mirijam von der Polizei festgenommen, rassistisch beleidigt und in Handschellen gelegt. Eine Polizistin durchsucht Mirijams Wohnung – ohne richterlichen Beschluss. Einwände werden abgetan „Was willst du denn dagegen machen? Solchen Typen wie Euch glaubt eh keiner.“
Sie lässt sich das nicht gefallen, klagt gegen die Polizei. Die Polizistin muss 150 Euro Strafe wegen Nötigung und Hausfriedensbruchs bezahlen, die rassistischen Äußerungen werden bestritten und, weil Aussage gegen Aussage steht, fallen gelassen. Dieser Vorgang hat Mirijam nachhaltig erschüttert. Dies geht so weit, dass sie sagt: „Die haben mir meine Heimat genommen“. Seit diesem Tag beschäftigt sich Mirijam mit dem Gedanken, aus dem „doch so toleranten Köln, in dem gefühlt aus jedem zweiten Fenster Anti-Rassismus-Fahnen wehen“ fortzugehen.
Ein paar Fragen an Mirijam Günter
Mirijam, was löst die Aussage „Meine Mutter ist Putze und ich werde auch höchstens Putze.“ in dir aus?
Das löst mein absolutes Unverständnis aus: Wenn du ganz unten bist, kommste nicht mehr rauf. Dass es dafür immer noch keine Lösung gibt, grenzt an ein Weltwunder.
Das betrifft auch mich persönlich: Das Bildungsbürgertum gibt einem ganz deutlich zu verstehen, dass man nicht dazugehört. Du kennst nicht deren Rituale und Verhaltensweisen.
Du hast selber eine „Heimkarriere“ hingelegt: Insgesamt 16 Jahre in verschiedenen Heimen. Die offiziellen Stellen hatten dich nach drei abgebrochenen Ausbildungen schon aufgegeben. Bis du ein hoffnungsloser Fall gewesen?
Mit meiner Biographie kann man froh sein, wenn man im Supermarkt Regale einräumen darf. Ansonsten landet man mit fünf Kindern in Chorweiler oder direkt im Knast.
Daher bin ich für andere ein hoffnungsloser Fall gewesen. Aber sie wussten nicht, dass ich mit Gott einen Pakt geschlossen habe.
Du sagst, dass dich das Schreiben gerettet hat. Wie kommt jemand ohne Erfahrung und entsprechende Kontakte in den Literaturbetrieb?
Literatur ist meine Therapie. Ich bin in die Literatur geflohen, wann immer ich Schutz gebraucht habe. Aber im Literaturbetrieb bin ich ein Außenseiter. Ich habe auf einer Autorenwebsite recherchiert: Alle Autoren dort hatten nur „glatte“ Lebensläufe: Studium, Auslandsaufenthalte etc.
Mirijam Günter: Die Stadt hinter dem Dönerladen Größenwahn Verlag; 200 Seiten, ISBN: 978-3957710512
Die katholische Kirche war für dich zum einen ein räumlicher Rückzugsort und zum anderen aber auch Stütze, an der du – auch in diesen für die Kirche schwierigen Zeiten – festhältst. Warum?
Solche Typen wie ich müssen in der Kirche bleiben, sonst bleiben doch nur noch Arschgeigen übrig.
„Ich bin sozialisiert durch die katholische Kirche, durch Menschen, die mir da begegnet sind und durch Kommunisten“, sagst du im Dezember 2021 im Domradio. Ist das nicht unvereinbar?
Das solltest du meine beiden beste Freunde, einen katholischen Geistlichen und einen Marxisten, fragen. Falls deren Antwort nicht ausreicht, steuere ich auch noch einen halben Kapitalisten bei.
Die Kölner Schriftstellerin Mirijam Günter, Bild: Dirk Fischer
Du bietest Literaturwerkstätten für Jugendliche an. Wie hat man sich das vorzustellen? Was passiert in einer Literaturwerkstatt?
Es klingt vielleicht erstaunlich, aber in einer Literaturwerkstatt geht es nicht ausschließlich um Literatur. Wir treffen uns und reden zunächst miteinander. Vielen, die ich dort treffe, geht es nicht gut. Aber sie bekommen das nicht artikuliert. Dann schreibt man sich selber oder schreibt an andere. Das hilft oft.
Und dann lesen wir auch ausgewählte Texte: Einer liest vor, die anderen hören zu. Tatsächlich ist es mir mal bei einer Literaturwerkstatt im Knast passiert, dass nur einer lesen konnte.
In jedem Fall ist ganz wichtig, dass kein anderer Erwachsener dabei ist. Das lehne ich rigoros ab, dann funktioniert das nicht. Diese Literaturwerkstätten sind für mich eine Berufung, kein Job.
Du hast wahrscheinlich ähnliche Lebenserfahrungen wie deine Schüler in den Literaturwerkstätten. Bist du dadurch näher an ihnen dran?
JA!
Du willst auch der Öffentlichkeit zeigen, was mit den abgehängten Jugendlichen passiert. Wie kann man dich dabei unterstützen?
Im Idealfall mit einer Spende für Bücherpakete für Jugendliche. So etwas gibt es vorbereitet in der Bunt-Buchhandlung.
Genau wie alle anderen Menschen in meiner Rubrik „Ein paar Fragen an …“ hat auch Mirijam Günter zu meinen „kölschen Fragen“ Rede und Antwort gestanden.
Wenn nicht Köln – wo sonst könntest du leben? Und warum gerade dort?
Bis April 20202Mirijam wurde fälschlicherweise von der Polizei festgenommen, siehe oben wäre das für mich undenkbar gewesen. Aber seitdem ist dies eine Frage, die mich sehr beschäftigt und die ich im Moment nicht beantworten kann.
Was machst du zwischen Weiberfastnacht und Aschermittwoch?
… jeden Tag den Satz sagen: „Nach Karneval trete ich in einen Karnevalsverein ein.“
Und was zwischen Aschermittwoch und Weiberfastnacht?
In der Zeit rette ich die Welt mit Hilfe der Literatur und denke über mein nächstes Karnevalskostüm nach.
Nenne ein/zwei/drei Gründe, warum man Köln morgen verlassen sollte.
Diese unfassbare Großstadt-Arroganz. Der Kölner ist tolerant, und wenn du nicht tolerant bist, dann haut er dir so lange auf den Kopf, bis du so tolerant bist wie er.
Die Verdrängung ärmerer Menschen aus dem Hipster-Vierteln.
Die niedlich „Klüngeleien“ genannten Geschäfte. Das passiert von konservativen bis linksradikalen Kreisen. Wobei – das finde ich ja fast schon wieder lustig.