In diesen Tagen fällt es allen – und ganz besonders uns Kölnern – leicht, auf die Kirche draufzuhauen. Die unrühmlichen Nachrichten rund um das Vertuschen, Verdrängen und Verleugnen sind inzwischen Alltag. Es ist momentan echt Zirkus in der Kirche!
Und das mit dem Zirkus ist wörtlich zu nehmen: Ein kleines Häufchen Aufrechter in der „Kirche für Köln“ macht die Türen auf. Für den Zirkus. Und was für ein Zirkus!
Die Weihnachtsshow Cupido des Cirque Bouffon
Aktuell1Vom 23. November 2022 bis zum 8. Januar 2023 gastiert der Cirque Bouffon in St. Michael. In einer Kirche. Ein Zirkus. Hoffentlich erfährt das der Papst nicht! Dabei bietet der Cirque Bouffon genau das, was eigentlich auch die Kirche bieten soll: „Wir wollen die Herzen berühren und die Zeit entschleunigen“ so der französische Regisseur Frédéric Zipperlin über die Weihnachtsshow „Cupido“.
Cupido, besser bekannt als „Amor“, ist der römische Gott der Liebe. Wenn er mit seinen Pfeilen trifft, erweckt er genau diese Liebe. Und im Cirque Bouffon schaffen das die Clowns Helena Bittencourt und Goos Meeuwsen, beide als Amor mit Flügeln verkleidet. Ihre (imaginären) Pfeile treffen das Publikum und bilden den roten Faden der Show, in der sich Tanz, Musik, Komik und die Akrobatik der Artisten zu einem Gesamtkunstwerk verbinden.
„Herzlich willkommen zu einem Abend voller Liebe und Wollust“
Dass überhaupt ein Zirkus in einer Kirche auftreten kann, hat das Team von „Kirche für Köln“ möglich gemacht. In St. Michael am Brüsseler Platz, mitten im Belgischen Viertel, verwirklicht das Team unter der geistlichen Leitung von Uli Merz und Lisa Brentano ihren Traum von Kirche: Ein Haus mit vielen offenen Türen, in dem alle Menschen etwas Gutes für ihr Leben finden.
Verstärkt wird ihr Team durch Priester Thomas Frings, der in seiner Begrüßung zur neuen Show deutlich machte, um was es bei Cupido geht: „Letzte Woche stand hier noch ein Altar, heute treten hier die Artisten auf. Herzlich willkommen zu einem Abend voller Liebe und Wollust.“ Durchaus ungewöhnliche Worte eines Priesters in einer Kirche.
Cupido nutzt den ganz besonderen Raum einer Kirche konsequent aus
Doch Frings trifft den Nagel auf den Kopf. Der Zirkus nutzt konsequent die ganz besonderen Möglichkeiten, die die drittgrößte Kirche Kölns2nach dem Dom und St. Agnes bietet: Die große Höhe des Hauptschiffs bildet die angedeutete Kuppel des Zirkuszelts und ermöglicht der Seilartistin Anna Abrams, ihre artistischen Übungen in schwindelerregender Höhe zu präsentieren. Die eigens von Sergej Sweschinski komponierte Musik nutzt die großartige Akustik des neoromanischen Baus der Kirche aus – inklusive Orgel.
Eine wunderbare Gelegenheit für Jeden, der mal für ein paar Stunden der hektischen Vorweihnachtszeit entfliehen möchte. In der perfekt inszenierten Show wechseln sich berührende Momente und urkomische Situationen ab. Wie etwa, wenn der Jongleur Evgeny Pimoneko mit federleichten Ringen jongliert. Direkt danach mündet der zunächst anmutige Tanz zweier Ballerinas in einer wüsten Schlägerei, welche man sonst nur aus Wrestling-Arenen kennt.
Was für ein Zirkus. In einer Kirche.
Kirche für Köln. Eine neue Gemeinde.
Stellt dir vor, die Kirche macht auf – und jeder geht hin
Während (zumindest bei gutem Wetter) das Leben im Schatten von St. Michael auf dem Brüsseler Platz tobt, war die Kirche immer leer und verlassen.
Die neu gegründete Gemeinde Kirche für Köln will das verändern. Dabei sind die Leitlinien „modern, offen, zugewandt“ nicht nur Lippenbekenntnisse, sondern finden ihren Ausdruck in unterschiedlichen Veranstaltungen, die nicht typisch für die Kirche sind – wie zum Beispiel der Zirkus in der Kirche.
Su jet jitt et nur in Kölle! Wir machen zwar Dinge gerne schon mal mehrfach, aber was am Rathausturm in den 1980er passiert ist, ist leider irgendwie typisch kölsch.
Der im Stil der Spätgotik errichtete Rathausturm ist reich mit Zinnen und Vorhangbögen geschmückt. Am auffälligsten sind aber die 124 Figuren von Persönlichkeiten, die die Geschichte der Stadt Köln geprägt haben.
Die Vorgeschichte: Die ersten Figuren stammten aus dem 15. Jahrhundert
Bereits mit Fertigstellung des Turms im Jahr 1414 war der Turm mit Figurten ausgestattet. Welche Figuren sich ursprünglich dort befanden, ist heute nicht mehr bekannt.
In den Jahren hatten Wind und Wetter den Figuren so massiv zugesetzt, dass diese anfingen, ganz oder in Teilen abzufallen. So beschloss der Rat am 22. Mai 1694 aus Sicherheitsgründen, die Figuren abzunehmen. Erst Ende des 19. Jahrhunderts wurde ein neues Figurenprogramm beschlossen. Diese Figuren wurden zwischen 1891 und 1901 in Auftrag gegeben.
Die Aufstellung dieser neuen Figuren war in Gruppen eingeteilt: Im Erdgeschoss war Platz für Fürsten und Erzbischöfe, im ersten Obergeschoss für Repräsentanten der Geschlechterherrschaft, eine Etage darüber für Repräsentanten der Zünfte. Das dritte Obergeschoss war für Männer der Künste und der Wissenschaft vorbehalten und im obersten Geschoss wachten die Schutzheiligen der Stadt über die Bürger. Die Letzte dieser Figuren wurde im Jahr 1902 aufgestellt.
Massive Beschädigungen im Zweiten Weltkrieg
Das Rathaus wurde im Zweiten Weltkrieg stark zerstört. Vom Rathausturm stand gerade noch ein Drittel. Es gab sogar Überlegungen, den Turm gänzlich abzureißen und neu aufzubauen. Doch die Kölner Handwerkerschaft erinnerte sich an ihre alte Zunft-Tradition und initiierte die „Bauhütte Rathausturm“. So wurde der Rathausturm, nach der Errichtung durch die Zünfte Anfang des 15. Jahrhunderts, im 20. Jahrhundert von den Kölnern Handwerkern gerettet.
Von 1950 bis in das Jahr 1975 wurde an dem Rathausturm gebaut und das Gebäude originalgetreu wieder aufgebaut. Allerdings waren von den bis 1902 aufgestellten Figuren auf dem Turm nach dem Bombardement des Zweiten Weltkriegs kaum noch etwas übrig.
Neues Figurenprogramm in den 1980er Jahren: Bei 124 neuen Figuren gerade einmal fünf Frauen.
Die Stadt setzte eine Historikerkommission mit der Aufgabe, eine neue Auswahl an Figuren vorzuschlagen, ein. Die Bedingungen waren lediglich, dass weder lebende Personen noch „negative Figuren“ abgebildet werden dürfen.
Die Kommission benötigte gerade einmal fünf Jahre, um ein entsprechendes Figurenprogramm zu erarbeiten. So konnte endlich im Jahr 1986 das Konzept vom Kulturausschuss verabschiedet und dem Stadtrat zur Abstimmung vorgelegt werden. Bei dieser Stadtratssitzung muss es hoch hergegangen sein, denn die Fraktion der Grünen verweigerte konsequent die Zustimmung. Mit Recht!
Was die Grünen auf die Palme brachte: Die Kommission hatte bei den 124 Figuren gerade einmal fünf Frauen vorgeschlagen. Mit anderen Worten: In der mehr als 2.000 Jahre alten Stadtgeschichte sollen Frauen gerade einmal mit 4% berücksichtigt werden. Ein Eklat.
Überarbeitung des Figurenprogramms
Die Kommission wurde noch einmal beauftragt, das Programm zu überarbeiten. 1988 wurde der neue Vorschlag mit dem immer noch mickrigen Ergebnis, dass jetzt gerade einmal 18 Frauen berücksichtigt wurden, vom Stadtrat verabschiedet.
Was von dem ursprünglichen Vorschlag der Kommission übrig blieb, war das Konzept, welche Figurengruppe wo ihren Platz finden sollte:
Im Erdgeschoss befinden sich Persönlichkeiten „Herrscher und herrschergleiche Personen“.
Danach folgen vom ersten bis zum dritten Obergeschoss „Für die Stadt wichtige Persönlichkeiten“.
Ganz oben ist der „Kölsche Himmel“: Die Schutzpatrone und Heiligen der Stadt
Nach den Irrungen und Wirrungen um die inhaltliche Ausgestaltung des Figurenprogramms war die nächste Hürde die Finanzierung der Figuren. Da die Stadt – wie immer – klamm war, ging man kötten. Die Idee: Kölner Unternehmen, Verbände, Bürger, Vereine etc. wurden angefragt, ob sie nicht die Patenschaft über eine oder mehrere Figuren übernehmen könnten. Diese Patenschaft war damit verbunden, die entsprechende Figur auch zu stiften. Kein ganz günstiges Vergnügen – immerhin kostete damals eine Figur rund 25.000 DM. Für diesen Betrag konnte man im Jahr 1988 einen gut ausgestatten Audi 80 kaufen.
Um die Figuren für eine lange Zeit haltbar zu machen, wurden diese mit Acrylharz getränkt. Grundsätzlich eine gute Idee. Denn die in der Gebäudeabdichtung, zum Beispiel auch am Dom, regelmäßig verwendeten Acrylharze haben eine gute Optik und eine hohe Beständigkeit. Nur war diese Konservierungsmethode leider nicht bei dem für die Figuren verwendeten Tuffstein geeignet.
Bereits nach zehn Jahren zeigten sich erste Risse in der Figur des „Engelbert von Berg“. Der Restaurator Thomas Lehmkuhl erkannte, dass der eher poröse Tuffstein der Figuren sich massiv mit dem Acrylharz vollgesaugt hatte. Das führte dazu, dass die Figuren, die vor der Behandlung mit dem Konservierungsmittel etwa 220 kg gewogen haben, danach aber satte 300 kg auf die Waage brachten.
Fachmann Lehmkuhl erklärte, dass der Tuffstein durch die große Menge Acrylharz hart und spröde wird. Lehmkuhl weiter: „Und gleichzeitig erhöht sich dadurch bei Sonnenschein oder Frost die thermische Belastung des Steins.“1„Risse im Kölner Turmpersonal!“, Welt am Sonntag vom 11. Dezember 2005
Eine Untersuchung der Figuren ergab, dass diese nicht mehr zu retten waren. Die Figuren zeigten massive Risse und bröselten vor sich hin.
Zwar wurde der „Schwarze Peter“, wer denn nun schuld an der Misere sei, noch hin- und hergeschoben. Doch die Tatsache, dass ausgerechnet die Figuren von Adolph Kolping und Albertus Magnus keine Auflösungserscheinungen zeigten, war Beweis genug: Diese beiden waren, genau wie 20 weitere Figuren, nicht mit dem Acrylharz getränkt worden und in einem tadellosen Zustand.
Neue Figuren im Jahr 2008
Aber: Die restlichen etwa 100 Figuren mussten neu beschafft werden. Daher startete die Stadt eine neue Spendenaktion, und viele der bereits etwa zehn Jahre zuvor so freigiebigen Gönner öffneten erneut die Geldbörse. So konnten exakte Kopien der Figuren erstellt werden. Immerhin hatte man gelernt: Die neuen Figuren wurden nicht aus Tuffstein, sondern aus einem speziellen französischen Kalkstein (Savonnières-Kalkstein) hergestellt.
Einige der ursprünglichen Figuren fanden anschließend ihren Platz in den Gärten oder Häuser der Stifter. Aber immerhin konnten im November 2008 alle 124 Plätze auf dem Rathaus wieder von den neuen Figuren eingenommen werden.
Mal sehen, wie lange die Figuren diesmal halten!
Autofellatio-Figur
Und dann befindet sich auch noch Figur von Konrad von Hochstaden am Rathaus. Er war als Konrad I. von 1238 bis 1261 Erzbischof von Köln und legte am 15. August 1248 den Grundstein zum Kölner Dom. Insofern gebührt ihm sicherlich ein Platz auf dem Rathausturm.
Allerdings irritiert ein kleines, aber durchaus sehenswertes Detail an der Statue: Der Sockel zeigt einen Mann mit nackten Hintern, der sein eigenes Geschlechtsteil im Mund hat. Der Fachbegriff für diese fast schon akrobatische Art der Selbstbefriedigung lautet „Autofellatio“.
Fraglich nur, weshalb dieser Sockel überhaupt seinen Platz auf dem Rathaus gefunden hat und wie das mit Konrad von Hochstaden zusammenhängt. Der ehemalige Stadtkonservator Ulrich Krings erläutert „Das ist ein ganz beliebtes Motiv gewesen. Dabei ging es darum, der Obrigkeit quasi den Arsch hinzuhalten. Mit derber, zur Schau gestellter Sexualität sollte gezeigt werden, dass einem die Moral- oder auch Ordnungsvorstellungen der Obrigkeit wurscht waren.“
Verständlich: In einer Zeit, in der die wenigsten Lesen und Schreiben konnten, mussten bildliche Darstellungen „griffig“ eine Botschaft vermitteln. Beliebt dabei: Darstellungen der sieben Todsünden, in diesem Fall die Wollust.
Dass es allerdings ausgerechnet Konrad von Hochstaden erwischt hat, ist eher Zufall. Denn das Original des „Autofellation-Sockels“ stammt ungefähr aus dem Jahr 1410. Und damals stand eine andere, nicht mehr bekannte Figur auf dem Platz, den heute der ehemalige Erzbischof einnimmt.
Aber da wir in Kölle ja schon immer Probleme mit unseren Bischöfen hatten, Josef Frings ausdrücklich ausgenommen, muss Konrad von Hochstaden stellvertretend für diese Menschen auf diesem speziellen Sockel stehen.
Insgesamt befinden sich 124 Figuren auf dem Rathausturm
Es war am 14. April 1912 gegen 23:40 Uhr, als Alfred Nourney an Bord der Titanic bemerkt, dass der Whisky in seinem Glas ein wenig schwankt. Viele Menschen um ihn herum bekommen den kleinen Stoß nicht mit. Dabei hat das damals modernste Schiff der Welt soeben einen Eisberg gerammt. Und damit sein Schicksal besiegelt. Zwei Stunden und 40 Minuten später versank der Ozeanriese in den eisigen Fluten des Atlantiks.
Bei dem Unglück kamen 1.514 Passagiere ums Leben. 712 Menschen überlebten das Unglück, unter Ihnen der Kölner Alfred Nourney, der unter dem Pseudonym „Baron Alfred von Drachstedt“ reiste.
Fahrt nach Amerika, um Ehre zu retten
Alfred Nourney, geboren am 26. Februar 1892 stammte aus einer reichen Kölner Weinhändlerfamilie. Schon sehr früh begeisterte sich der technikverliebte Junge für die Fliegerei. So berichtet der Kölner Lokal-Anzeiger vom 22. Januar 1912: “… Sodann bestieg einer seiner Kölner Schüler, Alfred Nourney, den Aeroplan, nahm die Kurven sehr kurz und schnell und landete im Gleitflug. …“.
Und auch sonst lebte Nourney anscheinend eher im Gleitflug, denn seine Reise mit der Titanic trat der junge Draufgänger nicht ganz freiwillig an: Angeblich soll er ein Hausmädchen der Nourneys geschwängert haben. Um ihn aus der „Schusslinie“ zu bringen, soll Alfred vorübergehend bei der amerikanischen Verwandtschaft untergebracht werden.
Doch der junge Hallodri macht aus der Pflicht eine Tugend. Kaum hatte er in Cherbourg auf dem luxuriösen Dampfer eingecheckt, gönnte er sich ein Upgrade auf die 1. Klasse und nennt sich fortan „Baron Alfred von Drachstedt“, wohl um besser in die feine Gesellschaft der 1. Klasse zu passen. Und unter den Millionären fühlte sich der junge Kölner pudelwohl. So telegraphierte er von Bord aus einen Tag vor dem Unglück an seine Mutter:
„Liebe Mutter – Ich bin so glücklich auf meiner ersten Klasse! Ich kenne schon sehr nette Leute! Einen Brillantenkönig! Mister Astor einer der reichsten Amerikaner ist an Bord! Tausend Küsse – Alfred.“
Außerdem schickt er ein weiteres Telegramm an ein gewisses „Fräulein Jarkonska“ in Köln, Rothgerberbach, „Drahtlosen Kuss, in Liebe Alfred.“ Vermutlich handelte es sich dabei um jene Dame, wegen der er Europa verlassen musste.
Neugierde rettet sein Leben
Alfred erkundet voller Begeisterung das Schiff und dringt dabei auch in Räume vor, die eigentlich der Besatzung vorbehalten sind. So entdeckte er auch eine kleine eiserne Wendeltreppe, die von der Kommandobrücke über alle Decks bis fast zum Kiel der Titanic führte. Diese Entdeckung sollte ihm später das Leben retten.
Am Tag des Unglücks selber dinierte der junge Nourney zunächst im Speisesaal der 1. Klasse, um danach im Rauchersalon bei ein paar Whisky mit seinen neuen Bekannten eine Runde Bridge zu spielen. Als es um 23.40 Uhr leicht rumpelt, werden die Gespräche zunächst etwas leiser, doch keiner ahnt, in welcher Gefahr sich die Menschen an Bord befinden. Die Maschinen liefen genauso weiter wie nur Augenblicke später die Gespräche der Upper Class-Passagiere.
Doch Alfred Nourney hat ein ungutes Gefühl. Er eilt in seine Kabine, holt seinen Mantel und inspizierte das Deck des großen Schiffs. Dort entdeckt er zwar Eisbrocken auf dem menschenleeren Deck, aber sonst keine weiteren Unregelmäßigkeiten. Bis wenig später die Maschinen aussetzen.
Jetzt schrillen die Alarmglocken und Nourney will zurück ins Schiff, doch die Türen sind verschlossen. Dann erinnert er sich an die kleine eiserne Wendeltreppe, die er bei seinen Streifzügen entdeckt hat. Er geht diese Treppe hinunter und stellt fest, dass bereits Wasser in das Schiff eingedrungen ist.
Warnung verhallt ungehört
Schnell eilt er zurück in der Rauchersalon, um die anderen Passagiere zu warnen. Doch die sind wenig beeindruckt von dem aufgeregten „Baron von Drachstedt“. Ein Amerikaner meint nur, dass wahrscheinlich lediglich ein Rohr geplatzt sei – „Oh – it doesn´t matter.“ Doch damit liegt er gänzlich falsch.
Zurück auf dem Deck stellt Nourney fest, dass die Rettungsboote klargemacht werden. Ganz Pragmatiker geht er zunächst zur Küche, um sich mit Whisky und Sandwiches einzudecken, bevor er – nach eigener Aussage – den Matrosen hilft, Passagiere auf die Rettungsboote zu bringen. Dann bricht, so Nourney, Panik aus und Schüsse fallen. In dem folgenden Chaos, so Nourney, wird er mitgerissen und kann sich gerade noch so an einem der Boote festhalten. Dieses wird, noch nicht einmal voll besetzt, um 0:45 Uhr zu Wasser gelassen.
Noch Jahrzehnte später kann sich Alfred Nourney an den Untergang des Luxusliners erinnern:
„Als die Titanic nun wirklich sank, das dauerte eine ganze Weile. Das donnerte – rrrrummms – als sie sich auf den Kopf setzte. Und weg war sie. Und dann kam die schlimmste Zeit, es sind ja, na etwa tausend Leute mit dem Sog runter, dann trieben die in dem eiskalten Wasser und schrien um Hilfe. Und das war wie ein – huuuuuuu – wie ein Sirenenton, dieses Schreien. Und dieser Todesschrei, dieser Notschrei von tausend Menschen, kreischend, das war ein Akkord wie ein Sirenenton, grauenhaft, und dieses Schreien hat über eine Stunde gedauert.“1Quelle: Deutschlandfunk Kultur, „Ein religiös verwerteter Untergang“ von Andreas Malessa, 14.04.2012, https://www.deutschlandfunkkultur.de/ein-religioes-verwerteter-untergang-100.html, abgerufen am 8. Mai 2022
Überwältigt von den Eindrücken und den Strapazen schlief Alfred Nourney auf dem Rettungsboot ein, welches um 5:10 Uhr von dem Dampfer „Carpathia“, welches als erstes am Unglücksort erscheint, aufgenommen wird.
Einzelne Quellen behaupten, dass sich Nourney an Bord der Carpathia wenig dankbar verhalten habe. So soll er angeblich einen ganzen Stapel Decken, der unter den frierenden Passgieren verteilt werden sollte, alleine für sich in Anspruch genommen haben.2Quelle: Kölner Stadt-Anzeiger,
Ein Kölner überlebt das Titanic-Unglück vom 13.01.2012, abgerufen am 20.05.2022
Auch scheinen seine materiellen Verluste doch stark übertrieben zu sein. So gibt er gegenüber der White Star Linie, der Betreibergesellschaft der Titanic, an, Verluste im Wert von zigtausend Dollar erlitten zu haben. Darunter acht Anzüge, zwei Abendanzüge, zwei Jagdanzüge, vier Mäntel, 40 Oberhemden, 15 Schlafanzüge, 14 Paar Schuhe, 10 Sets von Unterwäsche, 40 Kragen, zehn Paar Handschuhe, 120 Krawatten, 50 Taschentücher, einen Diamantring, mit Edelsteinen besetzte Manschettenknöpfe, zwei silberne Zigarettenetuis und eine silberne Haarbürste.
Grab auf Melaten
Die Carpathia lief am Abend des 18. April 1912 in New York ein. Nur wenige Wochen später kehrte Nourney wieder zurück nach Europa. Er lebte in Frankreich und Spanien, allerdings ohne die noch an Bord der Titanic so schrecklich vermisste „Fräulein Jarkonska“ vom Rothgerberbach.
Stattdessen vertreibt er sich die Zeit mit Autorennen, heiratet später eine andere Dame, bekommt mit ihr zwei Töchter und lässt sich in Bad Honnef nieder. Er arbeitet als Vertreter für Mercedes Benz und engagiert sich stark im örtlichen Tennisclub.
Alfred Nourney, der als junger Mann den Untergang der Titanic überlebt hat, stirbt am 15. November 1972 im Alter von 80 Jahren. Er wird auf Melaten beigesetzt, dort besitzt die Familie Nourney eine repräsentative Grabstätte.
Der Kölner Alfred Nourney starb im Jahr 1972 im Alter von 80 Jahren. Dass er überhaupt so alt wurde, grenzt an ein Wunder, denn er überlebte als Passagier den Untergang der Titanic.
Dabei war es ein großer Zufall, dass er überhaupt auf dem Schiff war, denn eigentlich sollte der Sohn einer reichen Kölner Weinhändlerfamilie nur bei amerikanischen Verwandten aus der „Schusslinie“ gebracht werden, weil er als junger Mann ein Hausmädchen der Nourneys geschwängert hatte.
Mehr zu diesem kölschen Lebemann und seiner fast schon unglaublichen Geschichte in diesem Köln-Ding der Woche.
Text dieser Podcast-Folge
Hallo und herzlich Willkommen, es ist wieder soweit, hier sind der Frank und der Uli und wir haben wieder eine Köln-Geschichte für euch ausgegraben.
Ja heute auf Wunsch von Uli gehen wir auf die romantische Seite unseres Strebens, weil heute geht es um die Titanic, heute geht es um Rose und Jack, oder wie wir sagen würden, Bärbelchen und Jupp.
Jetzt lachst du schon wieder. Du hast dir unbedingt diese Folge gewünscht und jetzt bekommst du sie auch. Es geht um mehr, es geht um den Untergang der Titanic und natürlich um den Zusammenhang mit der schönsten Stadt der Welt, mit Kölle. Was konnte dann diese beiden Dinge zusammenbringen? Das war tatsächlich ein Mann.
Aber fangen wir mal irgendwie mit dem Untergang der Titanic an.: 4 April 1912., gegen 23.40 Uhr.
Und es macht auf einmal so ein bisschen Peng auf diesem riesen Kutter. Und die Eiswürfel in den Whiskygläsern klingeln ein bisschen. Was ansonsten mit Eis war, wusste man zu dem Zeitpunkt noch nicht.
Upper Class unbeeindruckt
Aber die feine Gesellschaft, die Upper Class, die Oberdeck, die haben dann einfach weiter gefeiert. Ohne zu wissen, dass gerade mal 2 Stunden und 40 Minuten später der ganze Kutter blub, blub abgesoffen ist. Bei dem Unglück kamen 1514 Passagiere ums Leben. Und 712 Menschen überlebten das Unglück.
Unter ihnen der Kölner Alfred Nourney, der sich aber, ich will mal sagen, aus, der war eine Strunzbüggel. Ja, also der hat sich gerne angegeben. Der hat sich dort unter dem Pseudonym Baron Alfred von Drachstädt eingeschrieben. Und jetzt gucken wir uns diesen Alfred Nourney, alias Baron Alfred von Drachstädt, mal ein bisschen genauer an.
Er war eine Kölner, der kam aus einer reichend Kölner Weinhändlerfamilie, geboren 1892. Und hat dann auch sein Reichtum erst mal raushängen lassen. Der war so ein bisschen so ein Dandy, der Typ. Und hat dann auch ein bisschen krachen lassen. Und hat unter anderem 1912 schon den Flugschein gemacht.
Und da gibt es sogar einen Zeitungsausschnitt noch zu, wo beschrieben wird, wie er seine Prüfung macht.Der heißt es nämlich dann in einem Zeitungsartikel vom Januar 1912:
So dann bestieg einer seiner Kölner Schüler, Alfred Nourney, den Aeroplan, nahm die Kurven sehr kurz und schnell und landete im Gleitflug.
Leben im Gleitflug
Das war wohl schon irgendwie so ein echter Dandy Typ. Der hat ein ganzes Leben im Gleitflug geführt.
Denn auf einmal wurde der Junge verklappt. Der musste weg, der musste raus aus Köln. Der hat nämlich das Hausmädchen geschwängert. Also er war nicht nur ein bisschen im Gleitflug in seinem Leben, sondern er war auch ein Föttchesföhler. Also er hat gerne den Damen aufs Bett geholfen und musste dadurch aus der Schusslinie gebracht worden und sollte zu amerikanischen Verwandten gebracht werden.
Also erstmal fott, damit das mit dem Hausmädchen nicht so auffällt, dann haben sie den Filou einfach mal eingebucht und hat bot sich an, den auf der Titanic unterzubringen. Die stach nämlich dann genau in See. Und der ist in Cherbourg dann auf dieses Schiff drauf. Allerdings, der Junge wollte es ja ein bisschen krachen lassen, und Geld hat er auch noch gehabt. So hat sich dann Baron Alfred von Drachstedt genannt und hat einfach mal sein Ticket, ein Upgrade, sich selbst gegönnt und war auf einmal Passagier der ersten Klasse.
Ja, und unter den Millionären, da fühlte er sich, der junge Kölner, natürlich pudelwohl, hat es richtig raushängen lassen und so telegrafierte er vom Board an einem Tag, vor dem Unglück noch, an seine Mutter:
Liebe Mutter, ich bin so glücklich auf meiner ersten Klasse. Ich kenne schon sehr nette Leute, einen brillanten König, Mr. Astor, einer der reichsten Amerikaner ist an Bord, tausend Küsse, Alfred.
Das war aber nicht das einzige Telegramm, was er gesendet hat, das andere ist eigentlich viel interessanter. Ja, das hat er seiner Fräulein Jablonska geschickt. Wir gehen jetzt mal davon aus, das ist das Hausmädchen, die er da geschwängert hat.
Da schreibt er ihr: Drahtlosen Kuss in Liebe, Alfred.
Alfred inspiziert das ganze Schiff
Und auch sonst hat er das Schiff wirklich genossen, das Leben auf dem Schiff und ist da rumgeklettert überall. Der hat eigentlich alles sich angeguckt, was es auf dem Schiff gab. Der ist überall rumgeklettert, auch da, wo er gar nicht hin durfte. Der war auch sehr technikverliebt. Und unter anderem hat er eine Treppe entdeckt, die war eigentlich nur für das Personal gedacht, als schnelle Verbindung zwischen den einzelnen Decks. Und das wird später noch wichtig.
Und am Tag des Unglückes dinierte der junge Herr Nourney zunächst im Speisesaal der ersten Klasse. Und danach im Rauchersalon bei ein paar Whiskeys hat er es dann irgendwie raushängen lassen, dass er der Beste ist. Und hat eine Runde Bridge gespielt.
Na gut, auf jeden Fall, 20 vor 12 war das Schiff ruckelte leicht, weil es wurde ja dann, wie bekannt ist, von einem Eisberg gerammt. Respektive der Schiff hat den Eisberg gerammt, wenn man es genau nimmt. Aber das hat keinen so richtig gejuckt. Das ruckelt so ein bisschen. Und die Jungs haben kurz aufgehört, dann haben sie wigger jemaht.
Ja, das wollte auch gar keiner hören, dass der Herr Nourney da irgendwie mit einem unguten Gefühl durch die Kabine gerannt ist und hat irgendwie gesagt, Hilfe, Hilfe, Hilfe, hier kommt Wasser rein. Dann haben die erstmal gesagt, ja, da ist ein Rohr geplatzt oder sowas Ähnliches.
Eisbrocken auf dem Deck
Dann hat er aber Eisbrocken entdeckt, auf dem menschenleeren Deck. Und dann war er doch etwas, sag ich mal, verwirrt. Aber der Nourney kannte natürlich alle Wege in diesem Schiff, unter anderem auch diese Eisentreppe. So konnte er nämlich dann durch diese Eisentreppe genau rauf und ist dann oben aufs Deck gekommen.
Und jetzt wird die Geschichte ein bisschen krude. Und da muss man auch mal ein bisschen überlegen, ob das alles so stimmen kann. Angeblich wird er mitgerissen und kann sich gerade noch so an einem der Rettungsboote festhalten und sitzt da drin. Das Boot wird dann zu Wasser gelassen, unter anderem mit ihm dann, weil er ist ja reingefallen.
Und er sagte mal dazu, als die Titanic nun wirklich sank, das dauerte eine ganze Weile, das donnerte Rums, als sie sich auf den Kopf setzte und weg war sie. Und dann kam die schlimmste Zeit. Dann trieben die Menschen im eiskalten Wasser und schrien um Hilfe. Und das war wie ein Sirenenton.
Unglaubwürdige Verluste
Aber ich glaube nicht, dass es ihn das nachhaltig wirklich irgendwie geprägt hat, weil er ist tatsächlich auf dem Rettungsboot mal entspannt eingeschlafen. Und sein Rettungsboot war auch tatsächlich eins der ersten, welches von der berühmten Carpathia, also der erste Dampfer, der zum Unglücksort kam, was von denen aufgenommen worden ist. Und da war der feine Herr schön fein raus und hat sich dann entsprechend am Deck der Carpathia daneben benommen.
Da soll er nämlich nach Erzählungen einen ganzen Stapel Decken sich genommen haben, weil ihm war es ja kalt, dem feinen Herrn, und die anderen Passagiere konnten schön frieren. Aber der feine Herr hat noch mehr gemacht. Er hat nämlich anschließend dann mal, nachdem der Kutter gesunken ist, mal seine Versicherung angerufen und gesagt, oder die Versicherung von der White Star Line angerufen und gesagt, er hätte ja erhebliche materielle Verluste erlitten.
Und diese materiellen Verluste, die waren wirklich schon erheblich. Ja, also er soll acht Anzüge dabei gehabt haben, zwei Abendanzüge, zwei Jagdanzüge, wofür auch immer man die auf der Titanic und in Amerika braucht. Vier Mäntel, 40 Oberhänden, 15 Schlafanzüge, 14 Paar Schuhe, 10 Sets, Unterwäsche, 40 Kragen. Also ich sag mal, Mariah Carey hat weniger dabei, wenn die auf eine Welttournee geht.
Das ist alles so ein bisschen komisch. Ich würde ihn mal so als leicht Halbseiden bezeichnen. Das war alles nicht so ganz koscher, was der gemacht hat.
Er kam dann mit der Carpathia in New York an, ist dann wieder zurück, ist dann nach Frankreich.
Autorennfahrer
Die Fräulein Jablonska war auch Geschichte. Die war nicht mehr interessant für ihn. Und ist dann nach Bad Honnef gezogen. Er hat noch Autorennen gefahren, hat für Mercedes-Benz irgendwie so ein bisschen was verkauft und hat eigentlich ein sehr glückliches Leben geführt.
Im November 1972 ist er dann im Alter von 80 Jahren verstorben und hat seine letzte Ruhestätte auf einem repräsentativen Friedhofsstück auf Melaten gefunden. Das ist so ne kösche Jung, den eigentlich wirklich kein Mensch kennt. Würde mich jetzt wundern.
Also alle, die den schon vorher kannten, mögen sich mal kurz melden, dann falle ich wahrscheinlich tot um, wenn das mehr als fünf sind. Die Geschichte ist die einzige Verbindung, die mir bekannt ist zwischen Köln und der Titanic. Ich kannte den Alfred vorher auch nicht.
Und jetzt haben wir zwar abschließend nicht geklärt, ob auf dieses bescheuerte Tür, Rose und Jack, beide draufgepasst hätten. Ja, da werden wir auch niemals, werden wir da eine Lösung für finden. Ich sag ja, der hätte locker mal draufgepasst, wenn die mal ein bisschen zur Seite gerutscht wäre. Wobei, bei dem Gejaule von der Celine Dion wäre ich auch von dem Brett gerutscht.
Mit diesen Worten würde ich sagen, friert nicht zu viel im Wasser und maht et jood.
Ähnliche Bilder gab es zuvor bereits aus Hoyerswerda und vielen weiteren Orten nicht nur im Osten Deutschlands. Auch im Westen gab es vergleichbare Angriffe wie zum Beispiel im Mai 1993 der Brandanschlag auf das Haus der Familie Genç in Solingen, bei dem fünf Menschen starben und 17 weitere Menschen zum Teil schwer verletzt wurden.
Asyldebatte wurde von CDU/CSU und der BILD-Zeitung befeuert
Hintergrund der ausländerfeindlichen Überfälle war die hitzig geführte Asyldebatte. Im Jahr 1992 wurden 440.000 Asylsuchende in Deutschland registriert. CDU und CSU griffen das Thema auf und setzten auf Kampagnen mit den Titeln „Asylbetrug“ oder „Wirtschaftsflüchtlinge“. Beide befürchteten, Wähler an die stark wachsenden rechtsradikalen Parteien „Die Republikaner“ oder „DVU“ zu verlieren.
Sie konnten dabei auf die Unterstützung der BILD-Zeitung bauen. Der Historiker Ulrich Herbert bezeichnet diese Kampagnen als „eine der schärfsten, polemischsten und folgenreichsten Auseinandersetzungen der deutschen Nachkriegsgeschichte“.1Ulrich Herbert: Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge. München 2001, S. 299.
Fremdenfeindliche Straftaten auch in Köln und Umgebung
Das Bundeskriminalamt berichtet im September, dass in den ersten acht Monaten Jahres 1992 bereits 2.220 Straftaten gegen Ausländer begangen wurden. Die Gewalt gegen Ausländer, so die Behörde, „… habe sich qualitativ verschärft, deutlich sei eine Tendenz zur Brutalisierung und eine Steigerung der Gefährlichkeit der Angriffe.“
Auch im Rheinland randalieren die rechten Scharfmacher, hier eine Auswahl der rassistisch motivierten Straftaten innerhalb von nur sechs Tagen:
3. September 1992:
Brandanschlag auf eine Aussiedlerunterkunft in Bonn und auf eine weitere Unterkunft in Düsseldorf
4. September 1992:
Brandanschlag in Leverkusen auf eine Container-Siedlung, in der Aussiedler aus Polen und der GUS untergebracht sind.
6. September 1992:
In Alfter bei Bonn wird ein Schuss in den Wohnraum eines Asylbewerberheimes abgegeben.
8. September 1992:
Brandanschlag auf ein Flüchtlingswohnheim in Rösrath
Kölner Künsterlszene reagiert
Die Künstlerszene in Köln ist alarmiert. Die gut vernetzten Kölner Musiker wollen ein Zeichen gegen die rechte Gewalt setzen. Auslöser dieser Überlegung war der Musiker und Journalist Nedim Hazar, Vater von Eko Fresh. Hazar hatte in einem Gespräch den Musikern Anke Schweitzer und Rolf Lammers erzählt, dass er sich in Köln wegen der spürbaren rassistischen Tendenzen zunehmend unwohl fühle. Lammers sprach daraufhin den umtriebigen Musikmanager Karl Heinz Pütz (1954-2013) an.
Pütz fackelte nicht lange und trommelte die Kölner Musikerszene zusammen. So trafen sich am 22. Oktober 1992 unter anderem Stephan Brings, Arno Steffen von L.S.E., Wolfgang Niedecken und „Effendi“ Büchel von BAP, Hannes Schöner von den Höhnern, Tommy Engel sowie Gerd Köster und Matthias Keul von „The Piano has been drinking“ im Stadtgarten. Sie und viele weitere wollen eindeutig Position beziehen. Dabei entstand die Idee, unter dem Titel „Arsch huh, Zäng ussenander“ eine Kundgebung auf dem Chlodwigplatz zu veranstalten.
Als Termin für das Konzert wurde der geschichtsträchtige 9. November 1992 ausgewählt, der Jahrestag der Pogromnacht gegen die jüdische Bevölkerung im Jahr 1938. Von da an muss es schnell gehen – es bleiben gerade noch 18 Tage bis zur Veranstaltung.
Wie wöhr et, wemmer selver jet däät?
Die Veranstaltungsplanung lief sofort auf Hochtouren. Aber neben der kompletten Logistik und Organisation wollten die Musiker auch noch unbedingt ein Lied als Statement veröffentlichen. „Nick“ Nikitakis schreibt die Musik, Wolfgang Niedecken steuert den Text bei.
Dieser Text handelt von einem realen Erlebnis Niedeckens bei der Bäckerei Brochmann in der Südstadt. Er war Zeuge, wie ein Handwerker dort unwidersprochen rassistische Parolen von sich geben konnte, ohne dass jemand einschritt – Niedecken inklusive. Der Musiker später: „Erst auf dem Weg an den Frühstückstisch war mir bewusst geworden, dass ich schlicht gekniffen hatte“.
So kam es zu den legendären Zeilen:
Du jehß ding Brühtcher holle,
Su wie jeden Morje waatste an dä Thek.
Do löht ne Typ em Blaumann Sprüch aff,
Bei dänne et dir nur kotzschlääsch weed.
Du denks: Nur russ he, wat ess bloss passiert,
Dat kein Sau reajiert?
Wiesu’s e janz Land am kusche,
Als wöhr et paralisiert?
Wie wöhr et wenn du dämm Blaumann jetz sähs,
Dat du Rassistesprüch janit verdrähs?
Wenn du en vüür dä Lück blamiers,
Endämm du’n einfach oplaufe löhß?
Un övverhaup: wemmer selver jet däät,
Wemmer die Zäng ens ussenander kräät?
Wenn mir dä Arsch nit huh krieje,
Ess et eines Daachs zu spät.2 Du gehst dir Brötchen holen,
Wie jeden Morgen wartest du an der Theke.
Da klopft ein Typ im Blaumann Sprüche,
Bei denen dir kotzschlecht wird.
Du denkst: Nur raus hier, was ist bloß passiert,
Dass keiner reagiert?
Wieso kuscht ein ganzes Land,
Als wär es paralysiert?
Wie wär es, wenn du dem Blaumann jetzt sagst,
Dass du Rassistensprüche gar nicht verträgst?
Wenn du ihn vor allen blamierst,
Indem du ihn einfach auflaufen lässt?
Und überhaupt: Wird Zeit, dass man was tut,
Dass man den Mund endlich aufbekommt!
Wenn wir den Arsch nicht hochkriegen,
Ist es eines Tages zu spät.
Köln war da!
Auch Tommy Engel war einer der Initiatoren des Konzerts: „Die Idee des Konzertes ist relativ spontan entstanden. Wir konnten überhaupt nicht einschätzen, ob die Leute kommen würden. Wir hätten uns da total blamieren können und keiner wäre gekommen. Ich erinnere mich, wir standen oben in der Severinstorburg und schauten auf den Chlodwigplatz. Und langsam fing der Platz an, sich zu füllen. Aus allen Ecken kamen sie plötzlich herbeigeströmt. Das war total beeindruckend. Köln war da!“
Tatsächlich ist es etwa 90 Minuten vor Konzertbeginn noch erschreckend leer auf dem Chlodwigplatz, nur ein paar Hundert Menschen verlieren sich dort – die Organisatoren haben mit etwa 20.000 Teilnehmern gerechnet. Doch dann entwickelt sich eine unglaubliche Dynamik. Unvorstellbare 100.000 Menschen strömten zum Chlodwigplatz und auf die angrenzenden Straßen der Südstadt. Die Bahnen der KVB kommen nicht mehr durch und stellen rund um den Chlodwigplatz den Betrieb ein. Aber der gesamte Abend verläuft ohne Zwischenfälle.
Auf der Bühne waren Karnevalisten, Intellektuelle, Rocker, Alt und Jung vereint
Das Programm der Kundgebung war extrem breit gefasst: Die Höhner spielten „Wann jeit dr Himmel widder op?“, Willy Millowitsch rezitierte Carl Zuckmayers „Des Teufels General“ und der Widerstandskämpfer Jean Jülich berichtete von seiner Zeit als Edelweißpirat. Jürgen Zeltinger singt vom „Müngersdorfer Stadion“, der schwule Männerchor Triviatas steuert Brechts Kinderhymne bei. Und Tommy Engel muss auf der Bühne angesichts der unüberschaubaren Menschenmenge um Fassung ringen, als er das Lied vom „Veedel“ singt. Auf der Bühne stehen Karnevalisten, Intellektuelle, Rocker, Alt und Jung vereint.
Zum Finale kommen alle Künstler auf die Bühne und spielen den Titel „Arsch huh, Zäng ussenander“. Die Lieder des Abends inklusive des Titelsongs wurden vorher im Weilerswister CAN-Studio aufgenommen und erschienen auf einer eilig produzierten CD, deren Verkauf die Finanzierung der Veranstaltung sicherstellen soll.
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Nach der Kundgebung waren die Künstler zunächst nur „platt“. Der Stress der letzten Wochen mit der Organisation der Veranstaltung und der Produktion der CD sowie das aufwühlende Konzert hatte viel Kraft gekostet. Keiner der beteiligten Menschen realisiert in diesem Moment, was eigentlich passiert ist.
Musikmanager Karl Heinz Pütz (1954-2013) meinte 20 Jahre später: “Die Idee war, den Rassisten das Spielfeld zu entziehen. Es war ein emotionales Zeichen, mit dem wir klargestellt haben: Wir sind der Mentalitätsfaktor Köln. Besser als mit der Musik konnte man das nicht klarstellen. Ich glaube, das ist seitdem auch erledigt. Weil vom Apotheker über den Schützenbruder bis zum Philharmoniebesucher alle dabei waren.“
Aus dem losen Zusammenschluss wird eine dauerhafte Einrichtung
Die CD verkauft sich außerordentlich gut und spielte schnell 1 Mio. DM ein. Damit wurde der Grundstein für eine äußerst erfolgreiche und langlebige Initiative gelegt und der Verein Arsch Huh e.V. gegründet.
Dieser Verein versteht sich als sich als Sprachrohr für ein offenes, tolerantes, solidarisches Köln und setzt sich vielfach für die Verbesserung des Zusammenlebens und eine solidarische Stadtgesellschaft ein. So haben sich, nach Angaben von Arsch Huh e.-V., bisher mehr als 1.000 Kulturschaffende beteiligt, es wurden mehr als 1 Million Menschen erreicht.
Jubiläumskonzert in der Kölnarena
Die Überlegungen, zum 30. Jahrestag des legendären Konzerts auf dem Chlodwigplatz eine Wiederauflage an gleicher Stelle zu veranstalten, wurden schnell verworfen. Zu groß sind die Sicherheitsbedenken bei einem solchen Mammutprojekt. Eine Veranstaltung an alternativen Standorten wie dem Heumarkt oder auf der Deutzer Werft scheiterte an den hohen Kosten von bis zu 200.000 Euro.
Doch dann meldete sich der Chef der Lanxess-Arena Stefan Löcher und bot seine Spielstätte an. Hier fand nun am 10. November 2022 unter dem Motto „Wachsam bleiben!“die Jubiläumsveranstaltung statt.