Am 9. November 1992: Arsch huh, Zäng ussenander auf dem Chlodwigplatz

Arsch huh, Zäng ussenander
 Im August 1992 griffen in Rostock-Lichtenhagen rechtsextreme Randalierer unter dem Applaus (!) von etwa 3.000 Zuschauern das „Sonnenblumenhaus“ an. Dort waren zahlreiche Vietnamesen untergebracht. Besonders erschreckend: Als die Ausschreitungen ihren Höhepunkt erreichten, zog sich die Polizei zurück. Die im brennenden Sonnenblumenhaus eingeschlossenen Menschen waren im Kampf gegen den rechten Mob und die applaudierende Mittelmäßigkeit auf sich selbst gestellt.

Ähnliche Bilder gab es zuvor bereits aus Hoyerswerda und vielen weiteren Orten nicht nur im Osten Deutschlands. Auch im Westen gab es vergleichbare Angriffe wie zum Beispiel im Mai 1993 der Brandanschlag auf das Haus der Familie Genç in Solingen, bei dem fünf Menschen starben und 17 weitere Menschen zum Teil schwer verletzt wurden.

Asyldebatte wurde von CDU/CSU und der BILD-Zeitung befeuert

Hintergrund der ausländerfeindlichen Überfälle war die hitzig geführte Asyldebatte. Im Jahr 1992 wurden 440.000 Asylsuchende in Deutschland registriert. CDU und CSU griffen das Thema auf und setzten auf Kampagnen mit den Titeln „Asylbetrug“ oder „Wirtschaftsflüchtlinge“. Beide befürchteten, Wähler an die stark wachsenden rechtsradikalen Parteien „Die Republikaner“ oder „DVU“ zu verlieren.

Schlagzeilen der BILD-Zeitung vom 2. April 1992 (links) und 1. September 1992 (rechts)

Sie konnten dabei auf die Unterstützung der BILD-Zeitung bauen. Der Historiker Ulrich Herbert bezeichnet diese Kampagnen als „eine der schärfsten, polemischsten und folgenreichsten Auseinandersetzungen der deutschen Nachkriegsgeschichte“.1Ulrich Herbert: Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge. München 2001, S. 299.

Fremdenfeindliche Straftaten auch in Köln und Umgebung

Das Bundeskriminalamt berichtet im September, dass in den ersten acht Monaten Jahres 1992 bereits 2.220 Straftaten gegen Ausländer begangen wurden. Die Gewalt gegen Ausländer, so die Behörde, „… habe sich qualitativ verschärft, deutlich sei eine Tendenz zur Brutalisierung und eine Steigerung der Gefährlichkeit der Angriffe.“

Auch im Rheinland randalieren die rechten Scharfmacher, hier eine Auswahl der rassistisch motivierten Straftaten innerhalb von nur sechs Tagen:

  • 3. September 1992:
    Brandanschlag auf eine Aussiedlerunterkunft in Bonn und auf eine weitere Unterkunft in Düsseldorf
  • 4. September 1992:
    Brandanschlag in Leverkusen auf eine Container-Siedlung, in der Aussiedler aus Polen und der GUS untergebracht sind.
  • 6. September 1992:
    In Alfter bei Bonn wird ein Schuss in den Wohnraum eines Asylbewerberheimes abgegeben.
  • 8. September 1992:
    Brandanschlag auf ein Flüchtlingswohnheim in Rösrath

Kölner Künsterlszene reagiert

Die Künstlerszene in Köln ist alarmiert. Die gut vernetzten Kölner Musiker wollen ein Zeichen gegen die rechte Gewalt setzen. Auslöser dieser Überlegung war der Musiker und Journalist Nedim Hazar, Vater von Eko Fresh. Hazar hatte in einem Gespräch den Musikern Anke Schweitzer und Rolf Lammers erzählt, dass er sich in Köln wegen der spürbaren rassistischen Tendenzen zunehmend unwohl fühle. Lammers sprach daraufhin den umtriebigen Musikmanager Karl Heinz Pütz (1954-2013) an.

Pütz fackelte nicht lange und trommelte die Kölner Musikerszene zusammen. So trafen sich am 22. Oktober 1992 unter anderem Stephan Brings, Arno Steffen von L.S.E., Wolfgang Niedecken und „Effendi“ Büchel von BAP, Hannes Schöner von den Höhnern, Tommy Engel sowie Gerd Köster und Matthias Keul von „The Piano has been drinking“ im Stadtgarten. Sie und viele weitere wollen eindeutig Position beziehen. Dabei entstand die Idee, unter dem Titel „Arsch huh, Zäng ussenander“ eine Kundgebung auf dem Chlodwigplatz zu veranstalten.

Als Termin für das Konzert wurde der geschichtsträchtige 9. November 1992 ausgewählt, der Jahrestag der Pogromnacht gegen die jüdische Bevölkerung im Jahr 1938. Von da an muss es schnell gehen – es bleiben gerade noch 18 Tage bis zur Veranstaltung.

Wie wöhr et, wemmer selver jet däät?

Die Veranstaltungsplanung lief sofort auf Hochtouren. Aber neben der kompletten Logistik und Organisation wollten die Musiker auch noch unbedingt ein Lied als Statement veröffentlichen. „Nick“ Nikitakis schreibt die Musik, Wolfgang Niedecken steuert den Text bei.

Dieser Text handelt von einem realen Erlebnis Niedeckens bei der Bäckerei Brochmann in der Südstadt. Er war Zeuge, wie ein Handwerker dort unwidersprochen rassistische Parolen von sich geben konnte, ohne dass jemand einschritt – Niedecken inklusive. Der Musiker später: „Erst auf dem Weg an den Frühstückstisch war mir bewusst geworden, dass ich schlicht gekniffen hatte“.

So kam es zu den legendären Zeilen:

Du jehß ding Brühtcher holle,
Su wie jeden Morje waatste an dä Thek.
Do löht ne Typ em Blaumann Sprüch aff,
Bei dänne et dir nur kotzschlääsch weed.
Du denks: Nur russ he, wat ess bloss passiert,
Dat kein Sau reajiert?
Wiesu’s e janz Land am kusche,
Als wöhr et paralisiert?

Wie wöhr et wenn du dämm Blaumann jetz sähs,
Dat du Rassistesprüch janit verdrähs?
Wenn du en vüür dä Lück blamiers,
Endämm du’n einfach oplaufe löhß?
Un övverhaup: wemmer selver jet däät,
Wemmer die Zäng ens ussenander kräät?
Wenn mir dä Arsch nit huh krieje,
Ess et eines Daachs zu spät.2
Du gehst dir Brötchen holen,
Wie jeden Morgen wartest du an der Theke.
Da klopft ein Typ im Blaumann Sprüche,
Bei denen dir kotzschlecht wird.
Du denkst: Nur raus hier, was ist bloß passiert,
Dass keiner reagiert?
Wieso kuscht ein ganzes Land,
Als wär es paralysiert?


Wie wär es, wenn du dem Blaumann jetzt sagst,
Dass du Rassistensprüche gar nicht verträgst?
Wenn du ihn vor allen blamierst,
Indem du ihn einfach auflaufen lässt?
Und überhaupt: Wird Zeit, dass man was tut,
Dass man den Mund endlich aufbekommt!
Wenn wir den Arsch nicht hochkriegen,
Ist es eines Tages zu spät.

Tommy Engel bezieht eindeutig Stellung gegen Rassismus, Bild: Uli Kievernagel
Tommy Engel bezieht auch heute noch eindeutig Stellung gegen Rassismus, Bild: Uli Kievernagel

Köln war da!

Auch Tommy Engel war einer der Initiatoren des Konzerts: „Die Idee des Konzertes ist relativ spontan entstanden. Wir konnten überhaupt nicht einschätzen, ob die Leute kommen würden. Wir hätten uns da total blamieren können und keiner wäre gekommen. Ich erinnere mich, wir standen oben in der Severinstorburg und schauten auf den Chlodwigplatz. Und langsam fing der Platz an, sich zu füllen. Aus allen Ecken kamen sie plötzlich herbeigeströmt. Das war total beeindruckend. Köln war da!“

Tatsächlich ist es etwa 90 Minuten vor Konzertbeginn noch erschreckend leer auf dem Chlodwigplatz, nur ein paar Hundert Menschen verlieren sich dort – die Organisatoren haben mit etwa 20.000 Teilnehmern gerechnet. Doch dann entwickelt sich eine unglaubliche Dynamik. Unvorstellbare 100.000 Menschen strömten zum Chlodwigplatz und auf die angrenzenden Straßen der Südstadt. Die Bahnen der KVB kommen nicht mehr durch und stellen rund um den Chlodwigplatz den Betrieb ein. Aber der gesamte Abend verläuft ohne Zwischenfälle.

Auf der Bühne waren Karnevalisten, Intellektuelle, Rocker, Alt und Jung vereint

Das Programm der Kundgebung war extrem breit gefasst: Die Höhner spielten „Wann jeit dr Himmel widder op?“, Willy Millowitsch rezitierte Carl Zuckmayers „Des Teufels General“ und der Widerstandskämpfer Jean Jülich berichtete von seiner Zeit als Edelweißpirat. Jürgen Zeltinger singt vom „Müngersdorfer Stadion“, der schwule Männerchor Triviatas steuert Brechts Kinderhymne bei. Und Tommy Engel muss auf der Bühne angesichts der unüberschaubaren Menschenmenge um Fassung ringen, als er das Lied vom „Veedel“ singt. Auf der Bühne stehen Karnevalisten, Intellektuelle, Rocker, Alt und Jung vereint.

Zum Finale kommen alle Künstler auf die Bühne und spielen den Titel „Arsch huh, Zäng ussenander“. Die Lieder des Abends inklusive des Titelsongs wurden vorher im Weilerswister CAN-Studio aufgenommen und erschienen auf einer eilig produzierten CD, deren Verkauf die Finanzierung der Veranstaltung sicherstellen soll.

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Nach der Kundgebung waren die Künstler zunächst nur „platt“. Der Stress der letzten Wochen mit der Organisation der Veranstaltung und der Produktion der CD sowie das aufwühlende Konzert hatte viel Kraft gekostet. Keiner der beteiligten Menschen realisiert in diesem Moment, was eigentlich passiert ist.

Musikmanager Karl Heinz Pütz (1954-2013) meinte 20 Jahre später: “Die Idee war, den Rassisten das Spielfeld zu entziehen. Es war ein emotionales Zeichen, mit dem wir klargestellt haben: Wir sind der Mentalitätsfaktor Köln. Besser als mit der Musik konnte man das nicht klarstellen. Ich glaube, das ist seitdem auch erledigt. Weil vom Apotheker über den Schützenbruder bis zum Philharmoniebesucher alle dabei waren.“

Aus dem losen Zusammenschluss wird eine dauerhafte Einrichtung

Die CD verkauft sich außerordentlich gut und spielte schnell 1 Mio. DM ein. Damit wurde der Grundstein für eine äußerst erfolgreiche und langlebige Initiative gelegt und der Verein Arsch Huh e.V. gegründet.

Dieser Verein versteht sich als sich als Sprachrohr für ein offenes, tolerantes, solidarisches Köln und setzt sich vielfach für die Verbesserung des Zusammenlebens und eine solidarische Stadtgesellschaft ein. So haben sich, nach Angaben von Arsch Huh e.-V., bisher mehr als 1.000 Kulturschaffende beteiligt, es wurden mehr als 1 Million Menschen erreicht.

Anküdigung zum Konzert "30 Jahre Arsch Huh - Wachsam bleiben!" am 10. November in der Lanxess Arena
Anküdigung zum Konzert „30 Jahre Arsch Huh – Wachsam bleiben!“ am 10. November in der Lanxess Arena

Jubiläumskonzert in der Kölnarena

Die Überlegungen, zum 30. Jahrestag des legendären Konzerts auf dem Chlodwigplatz eine Wiederauflage an gleicher Stelle zu veranstalten, wurden schnell verworfen. Zu groß sind die Sicherheitsbedenken bei einem solchen Mammutprojekt. Eine Veranstaltung an alternativen Standorten wie dem Heumarkt oder auf der Deutzer Werft scheiterte an den hohen Kosten von bis zu 200.000 Euro.

Doch dann meldete sich der Chef der Lanxess-Arena Stefan Löcher und bot seine Spielstätte an. Hier fand nun am 10. November 2022 unter dem Motto „Wachsam bleiben!“die Jubiläumsveranstaltung statt.

Wachsam bleiben! Das Album zu 30 Jahre Arsch Huh
Wachsam bleiben! Das Album zu 30 Jahre Arsch Huh

Passend dazu wurde auch ein neues Album unter dem Titel „30 Jahre Arsch Huh. Wachsam bleiben!“ veröffentlicht. 

Und auch danach geht es mit Aktionen gegen Rechts und für eine freie Stadtgesellschaft weiter. Denn, so die AG Arsch Huh:

Arsch huh, Zäng ussenander bleibt eine Daueraufgabe – in Köln und überall!


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