Kölsche Tön: „Die hinger de Jardinge ston un spinxe“ – eine Anklage gegen Denunziation

Denunzianten stehen hinter Gardinen und hören mit, Bild: KI-generiert mithilfe von ChatGPT
Denunzianten stehen hinter Gardinen und hören mit

Als Jupp Schlösser und Gerhard Jussenhoven „Die hinger de Jardinge ston un spinxe“1Die hinter den Gardinen stehen und heimlich schauen im Jahr 1937 veröffentlichten, wirkte dieses Lied auf den ersten Blick wie ein typischer Karnevalshit: Ein harmloses Liedchen über neugierige Nachbarn, die ungesehen hinter den heimischen Gardinen stehen, alles mitbekommen, was in der Nachbarschaft läuft und diesen Klatsch & Tratsch brühwarm weitererzählen:

Dat dat Müllers Kätt ne Neue hät,
dat d’r Nubbels Chress gän Päädcher wett,
dat d’r Schmitz schon hätt sing dritte Frau,
wessen se ganz jenau.2Dass Käthe Müller einen Neuen hat,
dass Christian gerne auf Pferdewetten setzt,
dass Herr Schmitz schon die dritte Frau hat,
das wissen sie alles ganz genau.

Kritik an dem System der Überwachung

Doch wer genauer hinhört, erkennt schnell: Dieses Lied ist alles andere als harmlos. Es handelt sich um eine subtile Kritik an dem System der Überwachung und Denunziation im nationalsozialistischen Staat.

Die scheinbar harmlose Alltagsbeobachtung, dass Nachbarn alles mitbekommen, wird hier zur Anklage gegen die Schattenseite menschlicher Neugier. Denn 1937, als das Lied geschrieben und aufgeführt wurde, war Deutschland längst zu einem totalitären Überwachungsstaat geworden. Die Nationalsozialisten hatten ein Klima des Misstrauens und der Angst geschaffen, in dem eine unbedachte Bemerkung, ein falscher Blick oder ein Witz massive Konsequenzen haben konnte – nicht wegen offizieller Spitzel, sondern durch die Menschen, die „hinger de Jardinge ston“, die mithörten, meldeten und denunzierten.

Der Blockwart hört mit

Zentrale Figur dieser alltäglichen Bedrohung war der Blockwart – das verlängerte Ohr des Regimes im Wohnviertel. Aber mindestens genauso gefährlich waren oft die ganz normalen Nachbarn, Kollegen oder selbst Familienangehörige. Die Gestapo (Geheime Staatspolizei) nutzte ein engmaschiges Spitzelnetz aus der Bevölkerung.

Zwischen 1933 und 1945 waren es häufig eben jene „die hinger de Jardinge ston un spinxe“ die die Nachbarn, natürlich anonym, anzeigten, sei es aus Überzeugung, Angst, Opportunismus oder persönlicher Rache.

Der "Blockwart" war in der Zeit des Nationalsozialismus die rangniedrigsten Funktionsträger der NS-Partei, zuständig für die kleinteilige Kontrolle, Bespitzelung und Indoktrinierung der Bevölkerung. Bild: Stefan Kühn, CC0, via Wikimedia Commons
Der „Blockwart“ war in der Zeit des Nationalsozialismus die rangniedrigsten Funktionsträger der NS-Partei, zuständig für die kleinteilige Kontrolle, Bespitzelung und Indoktrinierung der Bevölkerung. Bild: Stefan Kühn, CC0, via Wikimedia Commons

In dieser Atmosphäre ein Lied aufzuführen, das genau diese Kultur der stillen Beobachtung und Weitergabe von Informationen aufs Korn nimmt, war von Jupp Schlösser und Gerhard Jussenhoven ein riskanter Akt der Zivilcourage. Hier wird, verkleidet in die Ironie des Karnevals der gefährliche Alltag in einer Diktatur entlarvt.

Tarnung durch Alltagsbezug

Der Text des Lieds bedient sich einer Sprache, die genug Alltagsbezug bietet, um offiziell als unpolitisch zu gelten, aber zwischen den Zeilen eine Botschaft transportiert: Achtung, überall wird geguckt, gespitzelt, notiert – und vielleicht auch gleich gemeldet.

Die Melodie ist beschwingt, der Rhythmus tänzerisch, die Sprache volkstümlich. Doch genau das war Teil der Strategie: Humor als Schutzschild, Musik als Ventil, Doppeldeutigkeit als Möglichkeit, Kritik zu üben. Jussenhoven sagte rückblickend: „Wir waren uns bewusst, dass es nicht ungefährlich war. Aber bei allen Aufführungen haben die anwesenden Nazi-Oberen immer fleißig mitgesungen.“3Begleitheft zum Programm der Bläck Fööss „Usjebom & Opjebaut – 80 Jahre Kriegesende in Köln“, Begleittexte von Wolfgang Oelsner, Köln, 2025. Allerdings sollte man auch wissen, dass Gerhard Jussenhoven am 1. Mai 1937 der NSDAP beitrat.4Mitgliedsnummer 5.945.797, Quelle: Bundesarchiv R 9361-IX KARTEI/18760941.

Auszug aus der Entnazifizierungsurkunde von Gerhard Jussenhoven. Er wurde in die Kategorie V "Entlastete: Personen, die vor einer Spruchkammer nachweisen konnten, dass sie nicht schuldig waren." eingeordnet.
Auszug aus der Entnazifizierungsurkunde von Gerhard Jussenhoven. Er wurde in die Kategorie V „Entlastete: Personen, die vor einer Spruchkammer nachweisen konnten,
dass sie nicht schuldig waren.“ eingeordnet.

Denunziation als Waffe

Im Nationalsozialismus wurde Denunziation zum Herrschaftsinstrument. Eine Bemerkung über Hitler, ein Witz über die Wehrmacht, das Lauschen ausländischer Radiosender oder das Verstecken jüdischer Nachbarn – all das konnte durch eine einfache Anzeige den Weg ins KZ oder zum Volksgerichtshof bedeuten. Und wer denunziert wurde, hatte selten eine Chance auf Gerechtigkeit.

Und so zeigt das Lied „Die hinger de Jardinge ston un spinxe“ nicht nur die typischen „Spökes“5spaßhafter Unsinn des kölschen Alltags, sondern stellt auch eine Warnung dar: Vor dem Menschen, der hinter der Gardine steht, und alles hört. Vor der Macht der kleinen Bosheit. Vor dem stillen Mitläufertum, das das Rückgrat jeder Diktatur bildet.

Kölscher Humor als Widerstand

Im Nationalsozialismus wurde der Kölner Karneval gleichgeschaltet und ideologisch vereinnahmt. Die NSDAP übernahm Kontrolle über Karnevalsvereine, jüdische Mitglieder wurden ausgeschlossen. Politische Kritik war verboten, viele traditionelle Elemente wurden angepasst oder entfernt.

Fritz Bilz: Unangepasst und widerborstig: Der Kölner Karnevalist Karl Küpper
Fritz Bilz: Unangepasst und widerborstig: Der Kölner Karnevalist Karl Küpper

Dennoch nutzten einige Künstler den Karneval, um in Liedtexten und Büttenreden offen oder versteckt Kritik zu üben. Der bekannte Kölner Bütttenredner Karl Küpper opponierte offen das Regime – und wurde dafür zusammengeschlagen und mit einem Auftrittsverbot belegt.

Die Zeit des Spitzeltums ist nicht vorbei

Dieses scheinbar harmlose Lied erinnert daran, wie dünn die Linie zwischen Nachbarschaftsneugier und gefährlichem Mitwissen ist. Und es warnt, wie leicht ein gesellschaftliches Klima entstehen kann, in dem Beobachten zur Kontrolle, Klatsch zur Anklage und Gucken zur Gefahr wird.

Denn selbstverständlich konnten Schlösser und Jussenhoven nicht ahnen, dass sich das Spitzeltum nicht nur im Nationalsozialismus etablierte, sondern auch im DDR-Unrechtsstaat. Beide Systeme – NS-Regime und die DDR – setzten stark auf gesellschaftliche Kontrolle durch Überwachung und Denunziation, oft durch ganz normale Bürgerinnen und Bürger. In der DDR waren dies bis zu 200.000 „Inoffizielle Mitarbeiter“ (IM) der Staatssicherheit, die auch „hinger de Jardinge ston“ und anschließend Meldung machten. Und auch in der durch einen Präsidenten Trump in den USA umgewandelten Gesellschaft ist die Denunziation nicht mehr weit.

Deshalb muss für unsere Gesellschaft gelten:
Kein Fußbreit den Faschisten! 


Die hinger de Jardinge ston un spinxe
(Text: Jupp Schlösser, Musik: Gerhard Jussenhoven, 1937)

Jede Minsch dä hätt sing Eigenaat,
dä spillt Lotterie und dä spillt Skat.
Widder and’re dun jett för ihr Wohl
drinke jähn Alkohol.

Vill die süht mer strebe ohne Rass,
and’re han am Schreberjade Spaß.
Doch se allemole han zoletz
doch e goldich Hätz.

Nur eine Minscheschlag
för däm nemm dich en aach:

Die hinger de Jardinge ston und spinxe,
dat sin de schlächste Minsche.
Se dauge nit, du kanns drop jon,
die hinger de Jardinge ston.

Dat dat Müllers Kätt ne Neue hät,
dat d’r Nubbels Chress gän Päädcher wett,
datt d’r Schmitz schon hätt sing dritte Frau,
wessen se ganz jenau.

Dröm loss et kumme wie et kütt,
an die Minsche stüre mer uns nit,
denn et jitt noch ein Jerechtigkeit,
die se all strofe deit.

Freue dun mer uns op Kölsch Aat,
richtig weed noch ens d’r Jeck jemaat,
denn wenn mer uns freue wat mer dun,
dat darf jeder sinn!

Et dun en Wirklichkeit
uns doch die Minsche leid:

Die hinger de Jardinge ston und spinxe,
dat sin de schlächste Minsche.
Se dauge nit, du kanns drop jon,
die hinger de Jardinge ston.


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