Stolpern über Geschichte(n): Stolpersteine und das EL-DE-Haus in Köln

Sieben von mittlerweile etwa 100.000 verlegten Stolpersteinen, davon etwa 2.500 in Köln, Bild: Axel Hindemith
Sieben von mittlerweile etwa 100.000 verlegten Stolpersteinen, davon etwa 2.500 in Köln, Bild: Axel Hindemith

Von Zeit zu Zeit veröffentliche ich Texte von Gastautoren im „Köln-Ding der Woche“. Dieser Beitrag stammt von Andreas „Andy“ Artmann. Der Journalist und Creative Director war einmal der der jüngste Zeitschriften-Verleger Kölns, leitete den Straßenvertrieb der Kölner Illustrierten und erstellte mit „20 Minuten Köln“ die erste echte Onlinezeitung Deutschlands.

In diesem Beitrag schreibt Andy Artmann über die Stolpersteine und das EL-DE-Haus in Köln. Vielen Dank, dass ich diesen Text hier veröffentlichen darf.


Stolpern über Geschichte(n):
Stolpersteine und das EL-DE-Haus in Köln

von Andreas „Andy“ Artmann

Vorab:

Das Kunst- und Erinnerungsprojekt „Stolpersteine“ meines Kollegen Gunter Demnig startete 1995 in Köln. Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern (IKG), bezeichnet die „Stolpersteine“ als „unerträglich“. Nach Knoblochs Meinung, würden die Namen ermordeter Menschen mit Füßen „…getreten“. Im Dezember 2005 hatte ich Gelegenheit über Demnigs Werk zu schreiben. 

Stolperstein Juliska Artmann, Aachener Straße 28, 50674 Köln, Bild: 1971markus, CC BY-SA 4.0
Stolperstein Juliska Artmann, Aachener Straße 28, 50674 Köln, Bild: 1971markus, CC BY-SA 4.0

Aachener Straße: Kebab-Buden, Cafés, kleine Buchantiquariate, schräg gegenüber das Volkstheater Millowitsch1heute die „Volksbühne“. Freundliches Wetter. Die Menschen flanieren. Mein Blick bleibt an einem zehn mal zehn Zentimeter großen Pflasterstein hängen. Darauf glänzt eine Messingplatte in der Wintersonne. In diese sind Worte eingetrieben: „Hier wohnte Juliska Artmann, geb. Fellner, Jg 1891, deportiert 1941 nach Riga.“ Ein Stolperstein des Künstlers Gunter Demnig. Seit 1995 verlegt er sie, kleine Gedenkstätten auf zehn Quadratzentimetern.

Demnig pflastert die Stadt mit Erinnerungen. Jeder einzelne Stein widmet sich dem Schicksal eines Menschen, den die Nazis zunächst „aussortierten“ und anschließend „auslöschten“. Widerstandskämpfer, Behinderte, Mitglieder von Minderheiten wie die deutsch-jüdischen Bewohner oder die im damaligen Amtsdeutsch als „Zigeuner“ bezeichneten Angehörigen der Sinti und Roma. So kehren diese Opfer der Tyrannei ins Bewusstsein der Passanten zurück. Wer aber war Juliska Artmann?

NS-Dokumentationszentrum und Gedenkstätte im EL-DE-Haus

Mein Interesse ist durch den Stolperstein geweckt, teile ich mit der Unbekannten doch den Familiennamen: „Artmann“. Über das Internet gelange ich auf die Seite des EL-DE-Hauses, benannt nach den Initialen des Erbauers und Besitzers Leopold Dahmen. Bis Kriegsende war das Gebäude die Zentrale der Gestapo (Geheime Staatspolizei) des damaligen „Gaus Köln“. Heute ist es NS-Dokumentationszentrum und Gedenkstätte. Dort erfahre ich, dass Juliska der jüdischen Glaubensgemeinschaft angehörte. Ich beschließe, die Spurensuche im EL-DE-Haus fortzusetzen.

Appellhofplatz Nummer 23 – fußläufig zum weltbekannten deutschen Wahrzeichen Kölner Dom. Neben dem Haus liegt St. Maria in der Kupfergasse, eine alte Wallfahrtskirche, davor zwei Bettler. Gegenüber das Amtsgericht. Bereits am 8. November 1938, einen Tag vor der „Reichskristallnacht“, zerrten dort Nazis die Amtsrichter jüdischer Abstammung heraus und fuhren sie auf Müllkarren durch die Stadt.

Der aus einer kölsch-jüdischen Familie stammende Künstler Manfred Weil erinnert sich später an die Straßenszene. Sein Vater Emil sagte damals: „Wenn die das mit den Richtern machen, weißt Du, was uns geschehen wird.“

Das EL-DE-Haus, NS-Dokumentationszentrum und Gedenkstätte in Köln, Bild: Raimond Spekking
Das EL-DE-Haus, NS-Dokumentationszentrum und Gedenkstätte in Köln, Bild: Raimond Spekking

Das EL-DE-Haus ist ein solides gräuliches Gebäude, Neoklassizismus. Unkompliziert hilft mir dort Barbara Becker-Jèkli bei der Spurensuche. Die Historikerin der Stadt Köln dokumentiert im EL-DE-Haus die Stolpersteine. In ihrem Büro sucht sie eine Karteikarte aus dem Archiv. Juliska Artmanns eingetragener Beruf ist „Heimarbeiterin“. In Köln-Sülz war sie als Schneiderin gemeldet. Später lebte sie in der Richard-Wagner-Straße, heute gibt es hier Comic- und Musikgeschäfte. Das Haus in der Aachener Straße mit dem Stolperstein davor, der Juliskas Namen trägt, scheint ein Ghetto-Haus gewesen zu sein. Darauf deuten die vielen Namen anderer Deportierter in der Kartei hin.

Was mit Juliska weiter passierte, verliert sich in den Wirren von Umquartierung, Deportation und Vernichtung. Insgesamt wurden etwa 25.000 deutsche Juden nach Riga deportiert. Die Überlebensquote, sofern die Frau das Ghetto überhaupt lebend erreicht hat, war gering. In der Bibliothek des EL-DE-Hauses versorge ich mich mit weiteren Informationen. 

Detailansicht einer Wandinschrift in einer Zelle des EL-DE-Hauses, Bild: Elya, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons
Detailansicht einer Wandinschrift in einer Zelle des EL-DE-Hauses, Bild: Elya, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

Beeindruckende Gedenkstätte im Keller

Danach besuche ich die Dauerausstellung über den Nationalsozialismus. Es empfiehlt sich eine Führung. Im zweiten Stockwerk verharre ich vor einem riesigen Luftbild des 1945 zu mehr als 90 Prozent zerstörten Kölns.

Ein schlechter Treppenwitz der Geschichte: Die Bomben der Alliierten verschonten das EL-DE-Haus – und damit ausgerechnet das Folterhaus der Gestapo.

Die Dauerausstellung erläutert, wie Menschen ausgegrenzt werden. Ein schleichender Prozess, wie aus übler Nachrede vermeintliches Allgemeinwissen, aus Propaganda verquere Wahrheit wird. Die eigentliche Gedenkstätte befindet sich im Keller. Der Zellentrakt ist erhalten geblieben. Knapp 1800 Inschriften an den Wänden zeugen vom Martyrium der Inhaftierten. Teilweise mit Fingernägeln in die Wände gekratzt, versuchten die Opfer, Botschaften zu hinterlassen. Ein Gefangener schrieb an die Zellenwand: „Kämen doch bloß die Amerikaner.“

Claus Hinrich Casdorff (1925 – 2004), späterer Gründer des WDR-Magazins „Monitor“, war hier im letzten Kriegsjahr als junger Wehrmachtsoffizier inhaftiert. Casdorff ein Mitwisser des Putschversuches vom 21. Juli 1944 (Tag des Stauffenberg Attentats auf Adolf Hitler): „Eigentlich wusste ich nichts. Da kam ich nur lebend raus, weil Kameraden schweigend in den Tod gingen, ohne meinen Namen zu nennen. Das Gedenken an diese Widerständler war mein Antrieb, Journalist zu werden.“

Die Zelle 9, eine von zehn insgesamt zehn Zellen im EL-DE-Haus, Bild: Factumquintus, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons
Die Zelle 9, eine von insgesamt zehn Zellen im EL-DE-Haus, Bild: Factumquintus, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

Folter- und Hinrichtungsstätte mitten in der Stadt 

Der Folterkeller befindet sich noch eine Etage tiefer im zweiten Untergeschoss. Die Schreie der Gequälten, worttäuschend als „Schutzhäftlinge“ bezeichnet, sollten nicht nach draußen dringen; so blieb die ordentliche Fassade des NS-Staates gewahrt. Die überlebende Insassin Käthe Brinkler schildert später, dass ihre Tortur pünktlich um zwölf Uhr unterbrochen und um 13 Uhr fortgesetzt wurde: Mittagspause im Deutschen Reich.

1944 waren die verbliebenen Kölner an Tod und Verwüstung gewöhnt, jetzt wurden im Hof des Hauses die ersten Menschen hingerichtet. Hunderte weitere Hinrichtungen sind belegt. Wie viele Häftlinge genau durch Folter, Schnellgerichte oder Krankheit hier starben, weiß heute niemand.

An einige wenige Menschen erinnern in den Straßen von Köln die Stolpersteine von Gunter Demnig.

Nachtrag:

Der Artikel erschien im Dezember 2005 in der Urversion »Erinnerung: Stolpern über Geschichte« in »Y. Magazin der Bundeswehr« (12/2005, Seite 100 f.) als Arbeit für die Frankfurter Societät (Mediengruppe Frankfurt). Dies rund zehn Jahre nach der ersten Verlegung eines Probe-Stolpersteines in der Kölner Thieboldsgasse (1995). Dieser Text wurde von überarbeitet und durch eine Passage meines persönlichen Gespräches mit Claus Hinrich Casdorff (1925 bis 2004) und eines Satzes von Manfred Weil (1920 bis 2015) ergänzt. Casdorff lernte ich 1996 für Reporter ohne Grenzen Deutschland in seiner Funktion als Chef des Kölner Presseclubs kennen und schätzen.

Andreas „Andy“ Artmann


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